Rio de Janeiro – Antonio Eliais sitzt in seinem Wohnzimmer und schaut Fernsehen, als eine Kugel neben seinem Kopf vorbeirauscht. "So knapp war es", erzählt er – und zeigt es mit den Fingern an: Der Abstand zwischen Daumen und Zeigefinger ist recht gering. Der 57-Jährige hat die Patrone mitgebracht, die von der Straße abgefeuert bei ihm einschlug. "23 Jahre lebe ich hier, aber so schlimm war es noch nie."
Ein Protestzug formiert sich am Eingang des "Complexo do Alemao", einer der größten und gefährlichsten Favelas der 6,5-Millionen-Metropole Rio de Janeiro. Ein Journalist hat eine kugelsichere Weste übergestreift. Überall sind Einschusslöcher in den Häusern zu sehen – aber der Markt am Eingang mit Fisch, Steaks und Würstchen, die bei 30 Grad in der Auslage liegen, versprüht eine friedliche, entspannte Stimmung.
Übersetzt heißt die Armensiedlung "Komplex des Deutschen". So wie sich der Glaube der Polizei an eine schnelle Lösung des Problems mit den hier operierenden Drogen- und Waffenbanden als Illusion entpuppte, ist auch der Name ein Missverständnis.
1920 landete hier nach dem Ersten Weltkrieg der Pole Leonard Kaczmarkiewicz. Damals gab es noch keine Siedlung, er gründete eine große Farm und heuerte vor allem im Norden, in der Region Salvador, billige Arbeitskräfte für den Anbau von Kaffee und Orangen an. Wegen seiner Statur, der hellen Haare und dem miesen Portugiesisch wurde er nur "Alemao" genannt, der Deutsche.
Statt nach Kaffee und Zitrusfrüchten riecht es heute vielerorts nach Urin und Müll, die Kanäle quellen über mit Plastiksäcken und anderem Unrat. Mehrere der an den Berghängen in Rio liegenden Favelas sind wegen der Fußball-WM und den Olympischen Spielen 2016 befriedet worden. Aber nicht diese. Hier herrscht Kriegszustand, hier sollen mit die mächtigsten Banden Rios operieren.
Eliais hat seine Bar bereits nach einer anderen Schießerei wegen der Schäden schließen müssen, nach dem jüngsten Vorfall will seine Frau nur noch weg. Er streckt einem mit müdem Blick die Hand mit der Kugel entgegen.
Der Wunsch nach Frieden wird immer lauter
Ein älterer Herr kniet bei der Demo mit einer Patronenattrappe nieder, betet theatralisch zum Himmel und fordert ein Ende. Per Lautsprecherwagen werden Einzelschicksale vorgelesen. So verstand ein autistischer Bub den Polizeibefehl zum Stoppen nicht und wäre fast gestorben. "Wir sind müde, mehr Frieden, weniger Schüsse", schallt es aus dem Lautsprecher. An den Hängen sind Eltern und Kinder zu sehen, die weiße Tücher schwenken.
Es geht vorbei an einem Polizeiposten. Jetzt wird es brenzlig. Seit vor fünf Jahren die Unidade de Policia Pacificadora (UPP) einmarschiert ist und Posten errichtet hat, traut sich abends kaum noch jemand raus. Der Posten befindet sich an einer Halle, wo Kulturveranstaltungen stattfanden, wo getanzt wurde. "Die Leute hier können keinen Karneval mehr feiern", dringt es aus dem Lautsprecher. Der Posten ist mit Tonnen und Sandsäcken gesichert.
Auch die Polizisten haben Angst
Ein Blick in die Augen der Polizisten. Sie sind hochnervös, umklammern ihre Maschinengewehre, Röntgenblick. Ständig die Augen auf die Demonstranten, vor allem aber auf die Häuser gerichtet, die sich in Schussweite an den Hang klammern. So wie die Bewohner Angst um Leib und Leben haben, haben auch die Polizisten Angst. Amnesty International wirft Rios Polizei überbordende Gewalt vor, seit 2005 habe sie bereits 5132 Menschen getötet.
Es ist ein Teufelskreis der Gewalt auf beiden Seiten, unter dem friedliche Bewohner am meisten leiden. Einer der Organisatoren des Protestes, Cleber Araujo (39), meint: "Der Staat will auf Teufel komm raus die Favela befrieden." 1600 Polizisten seien im Einsatz, rund 200.000 Menschen sollen hier leben. Ob das Vorgehen mit Olympia zu tun hat? Das Olympiastadion liegt nur sieben Kilometer entfernt von der sich über mehrere Hügel erstreckenden und mit einer Seilbahn verbundenen Armensiedlung. "Total", meint Araujo.
Lebensfreude trotz Gewalt und Tristesse
Hier sei nunmal leider das Zentrum der schlimmsten Drogen- und Waffenhändler von Rio. "Die Theorie ist, wenn sie das Nest hier eliminieren, dass sie dann nicht mehr woanders Unheil stiften können undRio sicherer wird bis Olympia." Eine der berüchtigtsten Banden hier hat den Namen "Comando Vermelho" – "Rotes Kommando".
2015 gab es nach Zählung der Zeitung "Globo" an 81 Prozent der Tage Schusswechsel. Im April starb ein zehnjähriges Kind durch eine Kugel. Alan Brum Pinheiro, Chef des Instituts "Raízes em Movimento", das die Gewalt hier untersucht, hat seit 2014 insgesamt 111 Zwischenfälle aufgelistet. Er kommt auf mindestens 32 Tote durch Schusswechsel, die offiziell vermeldet worden sind.
Cleber Araujo sagt: "Früher wurde nur nachts geschossen. Jetzt gibt es keine Uhrzeiten mehr." Aber trotz allem: Die Menschen lassen sich ihre typisch brasilianische Lebensfreude nicht nehmen, Kinder lachen aus Häusern mit Einschusslöchern, lassen Drachen steigen, spielen Fußball. Bewohner sitzen auf Plastikstühlen draußen, Bier fließt die Kehlen hinab, Motorräder werden repariert. Und es fallen einige Häuser auf, die knallbunt aus der Beton- und Ziegelsteintristesse hervorstechen.
Araujos Frau Marieluce (33) hat bereits acht Fassaden mit roten, blauen, gelben Häusern, fliegenden Drachen verziert, als Symbol eines sehr bunten Lebens hier. Sie verkauft die Szenen auch als Bilder. Noch mehr Optimismus versprüht nur ihr Mann: Er verteilt Postkarten, die für Tourismus im "Complexo do Alemao" werben. (APA, dpa, 8.9.2015)