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Zehntausende protestieren in Chisinau gegen Korruption und für den Rücktritt von Präsident Nicolae Timofti. Viele schwenken EU-Fahnen, doch auch prorussische Kräfte wittern ihre Chance.

Foto: EPA/Doru

Moskau/Chisinau – Ein buntes Zeltstädtchen vor dem Regierungsgebäude macht die moldauische Führung nervös. Rund 100 Zelte sind auf dem "Platz der großen Volksversammlung" in Chisinau aufgebaut, viele mit der blau-gelb-roten Nationalflagge geschmückt. Am Sonntag fanden sich dort 100.000 Menschen ein, um gegen die Regierung und die allgegenwärtige Korruption zu demonstrieren – eine unglaubliche Zahl für das Land mit gerade einmal 3,2 Millionen Einwohnern.

Das Zeltlager macht deutlich: Es war kein einmaliger Wutausbruch. Die Bewohner haben sich auf eine lange Auseinandersetzung eingestellt, eine Feldküche versorgt die Demonstrierenden. Das Geld für die Lebensmittel soll durch Spenden auf der Großdemo zusammengekommen sein. "Wir bleiben bis zum siegreichen Ende", versicherte Sergej Tschebotarjan, einer der Aktivisten der Bürgerplattform DA (Abkürzung für "Würde und Wahrheit").

Der Sieg ist nach Ansicht der Demonstranten der Rücktritt von Präsident Nicolae Timofti und eine vollständige Erneuerung der Regierung. Sein Rücktritt sei derzeit "nicht im Interesse" des Landes, lehnte Timofti am Dienstag die erste Forderung der Opposition ab, ein Gesprächsangebot von Premier Valeriu Strelet – nach einem Fälschungsskandal um Vorgänger Chiril Gaburici erst seit Juli im Amt – ließen die Demonstranten unbeachtet.

Auslöser der massiven Unzufriedenheit ist eine Betrugsaffäre, die das ganze Finanz- und Wirtschaftssystem des Landes bedroht. Im vergangenen Herbst hatten drei Großbanken einen Kredit über eine Milliarde Dollar an Offshorefirmen vergeben, das entspricht 12,5 Prozent des moldauischen Bruttosozialprodukts. Das Geld ist verschwunden, ebenso wie die fiktiven Kreditnehmer.

Diebstahl des Jahrhunderts

"Ich verstehe nicht, wie man eine so große Summe in einem so kleinen Land stehlen kann", kritisierte der EU-Repräsentant in Moldau, Pirkka Tapiola, den Vorgang. IWF und Weltbank stoppten nach dem Skandal vorläufig die Kreditausgabe an die Republik. Die Abwertung der Landeswährung Leu, Inflation und Tariferhöhungen ließen die Bevölkerung verarmen und den Zorn wachsen.

Pikanterweise gibt es keine ideologischen Gegensätze zwischen der DA und der Regierung. Letztere hat im vergangenen Herbst das Assoziationsabkommen mit der EU unterzeichnet, die DA tritt mit der Losung "für eine echte europäische Integration" gegen das System von herrschenden Oligarchenclans in der Republik Moldau an. Viele Demonstranten schwenken – ähnlich wie auf dem Kiewer Maidan vor fast zwei Jahren – die EU-Flaggen.

Obwohl mit dem Unternehmer Ilan Schor ein prorussischer Oligarch als einer der Hauptverdächtigen beim "Diebstahl des Jahrhunderts" gilt, könnten kurioserweise ausgerechnet prorussische Parteien Gewinner der Auseinandersetzung sein. Der Bürgermeister von Belz, Renato Usatii, ein weiterer moskaufreundlicher Multimillionär, hat sich inzwischen mit seiner Partei den Protesten angeschlossen. "Vorgezogene Neuwahlen sind die einzige Chance für die Republik Moldau", erklärte er. Usatiis "Unsere Partei", bei den letzten Wahlen noch nicht zugelassen, rechnet sich angesichts der schwer diskreditierten aktuellen Führung gute Chancen aus, sollte es noch im Herbst eine Abstimmung geben. Ob die Bürgerplattform DA sich so schnell in eine funktionierende Partei wandeln kann, ist ungewiss.

Angesichts dieses Szenarios sind westliche Politiker – anders als bei Auftritten in Kiew – zurückhaltend, den Protest zu unterstützen. Auf der anderen Seite zögert auch Moskau, denn zu groß sind die Parallelen des moldauischen Maidans mit der ukrainischen Revolte gegen ein korruptes Regime. Zumindest vorläufig bleiben die Proteste damit eine innere Angelegenheit der Moldau-Republik. (André Ballin, 9.9.2015)