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Wunderwesen aus einem Bestiarium des 13. Jahrhunderts.

Foto: J. Paul Getty Museum

Rudolf Simek: "Monster im Mittelalter". € 30,80 / 360 Seiten. Böhlau-Verlag, Köln, 2015

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Beim Scrabble wird man nach der Lektüre von Rudolf Simeks "Monster im Mittelalter" für einige Zeit unschlagbar sein. Man lege einfach Begriffe wie "Meermönche" oder "Hundsköpfige" aufs Brett – der österreichische Philologe und Mediävist belegt schwarz auf weiß, dass sie eine lange Tradition haben. Ihre Wurzeln reichen großteils bis zu griechischen Reisenden der Antike zurück, deren Berichte im Lauf der Jahrhunderte stark entstellt wurden.

Es war ein lang gehegter Wunsch Simeks, all den sogenannten "Wundervölkern" oder "Fabelrassen" ein eigenes Werk zu widmen, welche die Gelehrten des Mittelalters für ganz reale Bewohner ferner Weltregionen hielten. Das können einfach nur Menschen mit anderer Sozialstruktur – zum Beispiel Amazonen – oder auch solche sein, die sich in ihren Essgewohnheiten von Europäern unterscheiden.

Vor allem aber sind es Wesen von wunderlicher Gestalt, Mischformen aus Mensch und Tier oder auch Menschen mit bizarren Körpermerkmalen: die sich in ihre riesigen Schlappohren wickeln, die Gedärme außerhalb des Körpers tragen oder keinen Kopf haben, weshalb Augen, Nase und Mund auf dem Brustkorb sitzen. Simeks Lieblingsbeispiel sind die Skiopodes. Ihr Kennzeichen: ein einziger Fuß, auf dem sie wie ein geölter Blitz laufen können, sofern sie sich nicht gerade auf den Rücken legen und den Riesenfuß je nach Wetterlage als Sonnenschutz oder Regenschirm über sich halten.

Mittelalterliche Enzyklopädien sprachen auch von "monstra", abgeleitet vom lateinischen "monstrare" für "zeigen". Zeigen sollten die Wunderwesen nach damaliger Deutung in erster Linie Gottes schöpferischen Einfallsreichtum. Darüber hinaus wurden sie weitgehend wertneutral betrachtet. Sie galten nicht als Schreckensgestalten wie Monster heute, sondern als alternative Formen menschlichen Lebens.

Ein entscheidender Punkt für die Gelehrten der damaligen Zeit war die Frage, ob die Wunderwesen eine Seele hätten oder nicht. Diese vermeintlich akademische Diskussion sollte mit der beginnenden Neuzeit höchst reale wirtschaftspolitische Aspekte erhalten. Nun lasen die Europäer nicht mehr nur alte Reiseberichte, sondern kolonisierten selbst die Welt. Und trafen dabei auf indigene Bevölkerungen, bei denen der Grad an Menschlichkeit, den man ihnen zugestand, bestimmte, wie stark man sie ausbeuten durfte. Simek geht zwar noch darauf ein, wie die Ureinwohner Amerikas systematischer Versklavung entgingen, weil sich Vertreter der Kirche vehement dafür aussprachen, sie als beseelte Kinder Gottes anzusehen. Warum man mit Afrikanern später weniger gnädig verfuhr, wird im Buch aber leider nicht ausgeführt.

Generell betrachtet Germanist Simek sein Thema primär aus der motivgeschichtlichen Perspektive und verfolgt die literarische Evolution einer Fabelrasse von einer Quelle zur nächsten. Für Nichtphilologen ist "Monster im Mittelalter" daher neben dem ausführlichen lexikalischen Teil vor allem wegen der mehr als 150 Illustrationen aus mittelalterlichen Quellen interessant.

Es wimmelt im Buch nur so vor höchst erstaunlichen und oft unfassbar komischen Bildern. Was nicht nur den fantastischen Motiven geschuldet ist, sondern auch dem Wissensstand oder dem zeichnerischen Talent des jeweiligen Illustrators. So erwächst den fiktiven Wundervölkern ernstzunehmende Konkurrenz durch Wesen mit realer Grundlage, welche die damaligen Illustratoren aber nur vom Hörensagen kannten. Man wundere sich also nicht, wenn sich eine "Seekuh" hier als Fisch mit Hörnern oder ein "Krokodil" als Hase mit Schwimmhäuten präsentiert. "Monster im Mittelalter" ist eine wahre Augenweide. (Jürgen Doppler, 14.9.2015)