Die Frage, wie der Flüchtlingsstrom gerecht innerhalb Europas aufgeteilt werden kann, erhitzt die Gemüter. Laut EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sollen 160.000 Flüchtlinge innerhalb der EU umverteilt und ein permanenter Anti-Krisen-Mechanismus eingerichtet werden. Es gilt abzuwarten, ob die Kommission mit diesen Plänen bei den EU-Mitgliedsstaaten durchkommt.

Die EU tut sich schwer, offene Binnengrenzen und eine gemeinsame Asylpolitik unter einen Hut zu bringen. Die EU-Mitgliedsstaaten wollen und brauchen offene Grenzen, um wirtschaftliches Wachstum zu erzielen. Sie sind aber nicht bereit, ihre oft eng verstandenen "nationalen Interessen" in Asylfragen hintanzustellen.

Das Dilemma

Europäische Regierungen heißen Flüchtlinge selten willkommen. Internationales Recht verpflichtet sie aber zu deren Schutz. Die reicheren, nördlichen Mitgliedsstaaten der EU haben versucht, dieses Dilemma zu lösen, indem sie ihre Nachbarstaaten in den Schwitzkasten des Dublin-Systems genommen haben. EU-Randstaaten wie Italien und Griechenland durften an dem Projekt eines grenzfreien Binnenraums nur teilnehmen, nachdem sie die Dublin-Regeln akzeptiert hatten.

Dies bedeutet, dass sie für all die Flüchtlinge zuständig gemacht wurden, die die EU über ihre Außengrenzen betraten. Gleichzeitig wurden die nationalen Asylsysteme nur halbherzig harmonisiert. Es macht für die meisten Flüchtlinge noch immer einen großen Unterschied, ob sie ihren Asylantrag in Ungarn oder in Schweden stellen.

Diese Politik funktioniert nicht. Von Anfang an gab es Vorwürfe, dass gewisse Staaten an der EU-Außengrenze die Dublin-Regeln ignorieren würden. Flüchtlingen würden keine Fingerabdrücke abgenommen werden, sodass sie in anderen EU-Staaten einen Asylantrag stellen können.

In der aktuellen Flüchtlingskrise sind die EU-Staaten von einer versteckten Nichteinhaltung zu einer offenen Ablehnung der Dublin-Regeln übergegangen. "Nationale Selbsthilfemaßnahmen" sollen die Flüchtlingsströme vom eigenen Land fernhalten und auf andere Länder umlenken. Vor unserer aller Augen passiert ein flüchtlingspolitisches Schwarzer-Peter-Spiel, bei dem die EU als Ganzes eine Niederlage erleidet. Die Bürger Europas verlieren ihren Glauben in die Lösungskompetenz der EU. Den betroffenen Flüchtlingen droht eine menschenunwürdige Behandlung.

Was tun?

Das Ausmaß des Flüchtlingsstroms ist für die EU überraschend gekommen. Kann die EU das bestehende Asylsystem beibehalten, wenn die Asylantragszahlen wieder abnehmen? Dies könnte funktionieren. In den 1990er-Jahren gab es schon einmal eine Debatte um die Einführung eines Quotensystems für Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien. Als deren Zahlen aber wieder sanken, verstummte auch diese Diskussion. Angesichts des syrischen Bürgerkriegs und der Umbrüche im arabischen Raum ist von einer ähnlichen Entwicklung in der aktuellen Situation aber nicht auszugehen.

Ist daher das wahrscheinlichste Szenario tatsächlich eine "Renationalisierung Europas", wie Paul Lendvai vor kurzem an dieser Stelle anmerkte (der STANDARD, 31. August 2015)? Die negative Dynamik der aktuellen Krise deutet darauf hin – es fehlt der politische Wille zur Zusammenarbeit. Vielen scheint eine Rückkehr zu innereuropäischen Grenzkontrollen eine wünschenswerte Perspektive. Die Flüchtlinge würden dann eher in dem Land bleiben, in dem sie sich befinden. Aber diese Politik hätte ihren Preis. Der Wettbewerb der Nationalstaaten, wer am besten die Verantwortung für Asylfragen auf Nachbarstaaten auslagern kann, würde zunehmen. Grenzkontrollen bedeuten nicht nur das Ende der Reisefreiheit innerhalb Europas, sie sind auch ein Hindernis für Handel und wirtschaftlichen Austausch.

Die Alternative

Die Alternative ist, mehr Europa zuzulassen. In diese Richtung gehen auch die Vorschläge der Kommission. Eine Reform der EU-Asylpolitik sollte eine rechtlich verpflichtende Quote für die Verteilung der Asylsuchenden innerhalb der EU beinhalten. Auch sollten die EU-Mitgliedsstaaten nicht nur eine oberflächige Harmonisierung ihrer nationalen Asylsysteme vornehmen, sondern tatsächlich einheitliche europäische Standards schaffen. Sie könnten sich auf gemeinsame europäische Asylverfahren und EU-geführte Erstaufnahmezentren an den Außengrenzen verständigen. Ein viel stärkeres Engagement in den Krisenregionen wäre selbstverständlich.

Europa muss nicht an der Balance zwischen Reisefreiheit und Migrationskontrolle scheitern. Aber die aktuelle Situation erfordert mehr Kompetenzen und Durchgriffsrechte für die Europäische Union. Dagegen wehren sich nicht nur die osteuropäischen Länder, wenn sie sich gegen eine EU-Quotenregelung stellen. Dies betrifft auch Länder wie Österreich, das in der Harmonisierung der EU-Asylpolitik oft als Bremser aufgetreten ist.

EU-Lösungen zulassen

Den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union muss aber klar sein, dass sich eine Renationalisierung Europas nur dann vermeiden lässt, wenn man gesamteuropäische Lösungen und Ansätze auch tatsächlich zulässt. (Florian Trauner, 9.9.2015)