Ich staunte nicht schlecht, als ich den Artikel "Weniger Kopftuch, weniger Überfremdungsangst" im STANDARD vom 9. September las. Über jeden Absatz dieses Artikels könnte man einen eigenen Artikel verfassen, der auf so vielen Ebenen einfach falsch und unangebracht ist. Bereits in der Überschrift und im ersten Absatz kündigt sich typisch rechtsextremer Wortgebrauch wie "Überfremdung" und "Asylanten" an, und in diesem Ton geht es denn auch weiter.
Dann kommt die Hauptforderung des Artikels. Sie ist weder neu noch ausgefallen, denn wieder einmal heißt es: Würde die muslimische Frau doch einfach nur das Kopftuch ablegen, dann wären alle Integrationsprobleme gelöst. Die Angst vor "dem Islam" würde verschwinden, die Menschen würden Asylsuchende freundlich empfangen (tun sie doch schon!). Überhaupt würde die Sonne noch heller strahlen und der Weltfrieden ausgerufen werden (Zynismus off).
Besessenheit
Ich bin immer wieder überrascht, was für eine Bedeutung diesem simplen Stück Tuch auf dem Kopf meiner Schwestern aufgeladen wird. Die verbissene Fixierung auf das Kopftuch, die regelrechte Besessenheit davon hat in der europäischen Geschichte lange Tradition. Westliche Kolonialmächte islamischer Länder und in der Folge viele der von ihnen unterstützten lokalen Eliten haben sich stark auf das Kopftuch der muslimischen Frauen konzentriert: Egal ob in Algerien, Ägypten oder der Türkei, wurden muslimische Frauen massiven Repressionen ausgesetzt, damit sie ihr Tuch ablegen und einem europäischen Dresscode folgen.
Jetzt tritt ein pensionierter österreichischer Diplomat in die Öffentlichkeit und tut so, wie wenn es die Kolonialgeschichte und ihre postkolonialen Folgen nicht gäbe. Als hätten schwarze, braune und muslimische Frauen nicht jahrhundertelang am eigenen Leib erleben müssen, was es bedeutet, wenn der weiße Mann kommt und Ansprüche an ihren Körper und ihre körperliche Selbstbestimmung stellt.
Dieser dreiste weiße Mann kommt also wieder und erklärt uns, wie schön es doch wäre, wenn er die selbstgesetzten, körperlichen Grenzen muslimischer Frauen überschreiten könnte.
Herr Breisky schlägt sogar "finanzielle Zuschüsse" für das Ablegen des Kopftuchs und das Bekenntnis zum "traditionell ortsüblichen Dresscode" vor. Der Autor scheint sehr zuversichtlich zu sein, dass eine solche behavioristische Konditionierung ein guter Weg ist, um gute Musliminnen zu erziehen, und lässt Rückschlüsse auf sein Menschenbild ziehen. Dass der weiße Mann glaubt, er habe das Recht oder die Aufgabe, in die körperliche Autonomie der als anders konturierten Frau einzugreifen, ist alter, stinkender, kolonialer Wein in neuen Schläuchen.
Nicht genug der Arroganz, Herr Breisky meint auch noch die Musliminnen über ihre Religion belehren zu müssen. Er schreibt, der "eingesessenen Bevölkerung (...) ist heute durchaus bewusst, dass man in Europa auch ohne Kopftuch eine gute Muslimin sein kann, weil der Hijab nicht einer zwingenden theologischen Interpretation des Korans folgt, sondern nur der kulturellen Interpretation in einer anderen Weltgegend."
Vom Kopf reißen
Danke, Herr Breisky, jetzt sind mir die Augen geöffnet! Vielen Dank, dass sie uns ungebildete und des Lesens unkundige Musliminnen endlich aufklären! Wir haben die 1400 Jahre Botschaft unseres Buches nicht so gut verstanden und die ganze Zeit auf Sie gewartet. Ich werde mir gleich jubelnd das Kopftuch vom Kopf reißen!
In Anlehnung an den Titel des Kommentars von Herrn Breisky schließe ich also mit einer anderen Gleichung ab: weniger Arroganz und Kulturimperialismus, weniger Rassismus. (Dudu Kücükgöl, 10.9.2015)