Warum wartet man Jahre, um nicht zu sagen Jahrzehnte, um den Balkan in Europa zu integrieren? Während sich in der Zwischenzeit Katastrophen abspielen, heiße und kalte Bürgerkriege, mit tausenden Toten und Millionen sozial Deklassierten!" Diese prophetischen Worte sprach der albanische Premierminister Edi Rama vor wenigen Tagen in der Ankerbrotfabrik vor dem Western Balkans Civil Society Forum, das während des Wiener Balkangipfels stattfand.

Dann brachte Rama einen – sehr freien – Vergleich: "Halten wir uns vor Augen, dass die Bundesrepublik Deutschland genau eine Nacht brauchte, um Ostdeutschland zu integrieren. Wenn Europa damals von Ostdeutschland all das verlangt hätte, was man heute von den Westbalkanstaaten fordert, wäre es noch immer nicht Mitglied der Union."

Diese im Kontrafaktischen angesiedelten Worte sind einerseits reizvolle Parabel, andererseits enthalten sie einen Funken jener Wahrheit, die zugleich Selbstkritik sein könnte. Tatsächlich würde heute die Mehrheit der Bevölkerung des Westbalkans einem sofortigen EU-Beitritt zustimmen – so wie die Ostdeutschen bei den Wahlen 1990 de facto für die Wiedervereinigung stimmten. Materielle Motive, kurz die Hoffnung auf ein besseres Leben, waren die Triebfeder dieser Entscheidung – so wie sie dies heute bei den Balkannationen wären.

Die Zivilgesellschaft in den einzelnen Staaten sieht sich in ihrer großen Mehrheit ohnehin als Vorkämpferin eines EU-Beitritts. Darin mag sie sich von ihrer Kollegenschaft in der seinerzeitigen Wende-DDR unterscheiden, die dem Aufgehen in "Westdeutschland" skeptisch gegenüberstand. In den zivilgesellschaftlichen Zirkeln des Westbalkans wird jedenfalls vorwiegend proeuropäisch und, wenn man so will, panbalkanisch gedacht. Denn Europa steht hier unverändert für eine aufklärerische Agenda, für Freiheit und Demokratie – letztlich für die positiven Seiten der Französischen Revolution.

Wenn so viel an Einigkeit in Richtung Europa besteht, woran scheitert dann die Integration? Die Antwort, so unbefriedigend wie unbestimmt, kann nur lauten: an den Verhältnissen respektive der politischen und ökonomischen Realität. Die Staatswesen kommen wirtschaftlich nicht in die Gänge, Investitionen bleiben aus, und viele der Aktiveren verlassen ihre Heimatländer. Die politische Realität steht mit dieser Misere im Wechselspiel. In praktisch allen Staaten der Region haben die Eliten teils bizarre Systeme von Klientelismus und Patronage geschaffen, die einen nachhaltigen sozioökonomischen Wandel verhindern.

Da dieser Befund mit freiem Auge zu tätigen ist, braucht die Zurückhaltung der Europäischen Union nicht weiter zu verwundern. Und exakt hier liegt der Unterschied zu Deutschland und seinem Osten. Dessen alte politische Führung war 1989/90 gestürzt worden, ihre wendekommunistischen Erben blieben diskreditiert. Und die neue Führung gab die Souveränität ihres ungeliebten Staates freiwillig auf. Der "Westen" schluckte den "Osten". An allen Schaltstellen der Macht etablierten sich Westdeutsche, und es waren westliche Rezepte, die zur Anwendung kamen. Weite Kreise der ehemaligen DDR-Bevölkerung, mit dem dümmlichen Prädikat "Ossis" versehen, fühlten sich kolonisiert, und dies nicht nur zu Unrecht. Allerdings – der Systemwechsel gelang, und letztlich kam eine Erfolgsgeschichte in Gang.

Naturgemäß werden die politischen Eliten der Balkanstaaten zu einem nur annähernd vergleichbaren Machtverzicht nicht bereit sein. Die Aufgabe der Souveränität steht ohnehin nicht zur Diskussion. Wie aber sonst sollten die dysfunktionalen Systeme rasch umgebaut werden? Ganz zu schweigen von der notwendigen rapiden Evolution der Mentalitäten. Die Vorstellung, dass eine politische oder administrative Funktion auch Quelle für persönliche Bereicherung und die Fütterung der eigenen Klientel ist, wird so schnell nicht verschwinden.

Fédération balcanique

Der balkanische Europatraum wird daher noch längere Zeit ein solcher bleiben. Dennoch verdient er, geträumt zu werden, um einer späteren Realität im Voraus Form zu verleihen. Wobei Wien nicht zum ersten Mal der Brennpunkt derartiger Sehnsüchte ist. Vor exakt 90 Jahren erschien die erste Wiener Ausgabe der Zeitschrift La Fédération balcanique, herausgegeben von linken und liberalen Intellektuellen und gedacht als geistige Tribüne, von der aus Europa betreten werden sollte. Unverzichtbar wäre ein solches Eintreten auch heute noch, denn, wie der große Genfer Literat Nicolas Bouvier in seinem Buch L'usage du monde, der Bibel aller Reisenden, schrieb: "Wäre es gestern, wäre es morgen – der Balkan ist das Herz Europas." (Christoph Benedikter, Jordan Plevnes, 10.9.2015)