Berlin/Wien – Deutlich mehr Polizeibeamte als an den vergangenen Tagen kontrollierten am Donnerstag am Wiener Westbahnhof das Kommen, Warten und Gehen der Flüchtlinge. Jeweils mehrere Dutzend Personen wurden am Beginn eines Bahnsteigs oder auf der Fläche dahinter gruppenweise organisiert, umstellt von Beamten. Insgesamt befanden sich am frühen Nachmittag rund 200 Polizisten vor Ort. Dolmetscher erläuterten den Menschen die Situation. Insgesamt passierten mehrere tausend, jedenfalls mehr als 3000 Flüchtlinge den Bahnhof. Laut Burgenlands Polizeichef Hans Peter Doskozil sind am Donnerstag insgesamt 7.500 Flüchtlinge über die Grenze in Nickelsdorf nach Österreich gekommen.
Aufgrund des hohen Personenaufkommens am Westbahnhof praktizierte die Polizei dort eine Art Stop-and-go-System. Grund für den Stau in der Flüchtlingsbewegung: Es fuhren keine Sonderzüge mehr Richtung Deutschland.
"Es reicht nicht"
"Wir tun unser Möglichstes, aber es reicht nicht", sagte Michael Braun, Konzernpressesprecher der ÖBB-Holding, zum STANDARD. "In den vergangenen 14 Tagen haben wir an Garnituren alles fahren lassen, was geht. Jetzt mussten viele Züge ins technische Service sowie in die Reinigung." Daher, so Braun, könnten seit Donnerstag keine eigenen Züge für Flüchtlinge mehr vom Wiener Westbahnhof aus nach Deutschland fahren.
Bahninsider nannten als Grund dafür auch hohe Sonderzugskosten, etwa für Lokführer und Schienenmaut, vor denen die ÖBB zurückschreckten. "Das ist unrichtig. Wir haben diese Kosten noch gar nicht erhoben", meint dazu Braun.
60 bis 80 pro Zug
Mangels Sonderzügen konnten die Schutzsuchenden am Donnerstag nur die regulären Bahnverbindungen – bei Tag zwei pro Stunde – vom Westbahnhof nach Deutschland nehmen. Etwa 60 bis 80 Menschen pro Fahrt durften mit. Für die in Wien zwischenzeitlich Gestrandeten sollten vorübergehend Kasernen geöffnet werden. Auch in der Grazer Belgier-Kaserne sollte ein Zwischenquartier eingerichtet werden. Seitens der Caritas rechnete man mit mehr Bettenbedarf für die Nacht auf Freitag als in der Nacht zuvor, in der 1000 Menschen am oder beim Westbahnhof schliefen.
Die Münchner Polizei bestätigte, dass weniger Flüchtlinge aus Österreich ankamen. Ein am Donnerstag kursierendes Gerücht, wonach die deutsche Polizei und die Deutsche Bahn nach Anordnung aus dem Büro von Kanzlerin Angela Merkel die Annahme von Sonderzügen aus Österreich gestoppt hätten, wurde nicht bestätigt. Unterdessen erreichten aus Ungarn kommend weiter hunderte Menschen den Grenzübergang Nickelsdorf; zu Fuß, nachdem die meisten von ihnen im ungarischen Hegyeshalom aus den Zügen aussteigen mussten. Am Donnerstag fuhren die ÖBB-Züge wieder nur bis zur Grenze. Diese hatten zwischen Mittwoch und Donnerstagnachmittag insgesamt rund 8.000 Asylsuchende passiert, davon alleine 4.300 am Donnerstag bis zum Nachmittag.
Eigene Busse aus Nickelsdorf
Die Flüchtlinge aus Nickelsdorf sollen verstärkt in eigens gecharterten Bussen direkt nach Deutschland gebracht werden, sagte Innenministeriumssprecher Karl-Heinz Grundböck. Bisher geschah dies nur in geringem Ausmaß. Die Informationspolitik der ungarischen Behörden sei weiterhin "sehr dürftig", sagte Grundböck. Fakt aber sei, dass die Flüchtlinge derzeit "besonders rasch durch Ungarn durchreisen" könnten. Somit sei zu erwarten, "dass jene Menschen, die sich heute in Serbien an der ungarischen Grenze befinden, morgen schon in Österreich sein werden" .
Tausende auf dem Weg
Freiwillige in Ungarn berichteten, dass sich viele Flüchtlinge aus den Camps davonmachten. In der nordserbischen Stadt Kanjiža trafen zwischen Mittwoch- und Donnerstagmittag 4.000 Menschen ein, so viele wie noch nie binnen eines Tages. Flüchtlingsexperten meinen, dass die Schutzsuchenden die Tage vor Inkrafttreten der scharfen neuen ungarischen Gesetzeslage am 15. September nutzen. Danach droht in Ungarn auf "illegale Einreise" Haft. Außerdem wird derzeit am Grenzzaun zu Serbien mit besonderem Druck gearbeitet. Am Donnerstag hieß es, dass er schon Anfang Oktober fertiggestellt werden soll, statt wie geplant bis zum 31. Oktober. Der ungarische Außenminister Péter Szijjártó hat die Abschiebung von Flüchtlingen nach Serbien angekündigt, wenn diese in seinem Land um Asyl ansuchten und von den Behörden abgelehnt wurden. (Irene Brickner, Gudrun Springer, 11.9.2015)