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Schriftstellerin Samar Yazbek: "Was in Syrien geschieht, ist ein Versagen des Gewissens der Welt."

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Samar Yazbek kehrte mehrfach heimlich in ihre Heimat zurück, um mit den Menschen zu sprechen und ihre Schicksale aufzuschreiben.

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Ein Jahr nach Ausbruch der syrischen Revolution musste Samar Yazbek aus Syrien fliehen. Ihr Name war auf einer Todesliste aufgetaucht. Seither kehrte sie mehrfach heimlich in ihre Heimat zurück, um mit den Menschen zu sprechen und ihre Schicksale aufzuschreiben. In ihrem Buch Die gestohlene Revolution. Reise in mein zerstörtes Syrien erzählt sie vom Überlebenskampf der Menschen dort.

STANDARD: Frau Yazbek, Sie geben in Ihrem Buch Ihrer Verzweiflung Ausdruck, dass niemand wissen will, was in Syrien passiert. Hat die Welt Syrien im Stich gelassen?

Yazbek: Die Welt weiß, was in Syrien geschieht. Alle Dokumente und Beweise zu den Kriegsverbrechen des Assad-Regimes wurden den Vereinten Nationen vorgelegt, und zwar noch vor dem Auftauchen von IS und ähnlicher Gruppierungen. Aber die großen Länder, einschließlich der USA, verhielten sich angesichts all der Massaker, die Assad an seinem Volk verübte, neutral. Später erklärten sie, der Terrorismus, den der IS repräsentiere, stelle eine Gefahr für die zivilisierte Welt dar. Sie verkündeten, sie würden den IS bekämpfen. Das ist Heuchelei! Ich bin keine Anhängerin von Verschwörungstheorien. Aber die Politik, die die reichen Länder gegenüber den armen betreiben, ist die Ursache für das Entstehen dieser intoleranten islamistischen Bewegungen.

STANDARD: War das Nichteingreifen des Westens in Syrien – insbesondere nachdem Assad Giftgas gegen die Bevölkerung eingesetzt hatte – der entscheidende Faktor für das Erstarken des IS?

Yazbek: Ja, die Untätigkeit der großen Länder erlaubte es dem IS, sich nach Syrien hinein auszubreiten, das halbe Land unter seine Gewalt zu bringen und zwei Drittel des Iraks zu erobern. Sie ist auch der Grund, warum das syrische Volk seinen Glauben an diese Welt verloren hat. Jahrelang wurde es unter täglicher beispielloser Gewalt alleingelassen. Die USA interessieren sich nicht für die Situation der Menschenrechte in Syrien. Es kümmert sie nicht, dass das Land zur einen Hälfte von einem Kriegsverbrecher wie al-Assad beherrscht wird, in der anderen Hälfte der IS wütet.

STANDARD: Wie erklären Sie sich den ungeheuren Ausbruch an Gewalt, der sich nach 2013, also nach Ihrem letzten heimlichen Aufenthalt in Syrien, noch gesteigert hat?

Yazbek: Das liegt daran, dass die Welt den täglichen Gewalttaten des Assad-Regimes tatenlos zusieht. Nach wie vor sind die syrischen Städte den Bombardierungen mit Giftgas aus Assads Flugzeugen ausgesetzt. Hinzu kommen die extremistischen Kämpfer, die das Land in ein blutiges Schlachtfeld verwandelten. Gewalt bringt Gewalt hervor. Das wird sich steigern, solange keine Änderung der Lage erfolgt.

STANDARD: Die gestohlene Revolution lautet der Titel Ihres Buches. Wie war dieser Diebstahl möglich? Hatte die Revolution zu wenig Rückhalt in der Bevölkerung?

Yazbek: Dieser Diebstahl erfolgte in vielen Stufen. Zunächst verliefen die Proteste gegen das Assad-Regime friedlich. Dennoch wurden die Protestierenden vom Geheimdienst festgenommen, gefoltert und sogar getötet. Armee und Geheimdienst kamen zum Einsatz. Um sich verteidigen zu können, begannen die Protestierenden sich zu bewaffnen und die Freie Syrische Armee zu schaffen. Die Wahrheit ist, dass sie keine Unterstützung erhielten. Die internationale Gemeinschaft ignorierte das Geschehen. Stattdessen strömten durch die offenen Grenzen zur Türkei die Jihadisten ins Land. Von diesem Moment an schlug die Revolution um. Sie verlor ihr ursprüngliches Ziel gänzlich aus den Augen.

STANDARD: Mittlerweile scheint es, als würde sich al-Assad mit dem IS arrangieren. Hat die Opposition der Intellektuellen und der bürgerlichen Gruppen noch eine Chance?

Yazbek: Unter den gegenwärtigen Bedingungen sehe ich keinen Anlass für Optimismus. Die Protestbewegung ist zu schwach, um eine Rolle zu spielen. Außerdem steht sie unter dem Einfluss der Interessen anderer Länder, die sie kontrollieren. Solange das Assad-Regime nicht davon abgehalten wird, Syrien fortwährend zu bombardieren, werden die Menschen im Land weiter sterben. Nur wenn die großen Länder den Willen zeigen, das Blutvergießen in Syrien zu beenden, kann die Protestbewegung Hoffnung schöpfen. Dann werden sich auch Intellektuelle um eine ernsthafte Zusammenarbeit bemühen. Im Moment fehlt es einfach an Vertrauen in die Ehrlichkeit der Vereinten Nationen und ihrer Organisationen.

STANDARD: Nach Kofi Annan und Lakhdar Brahimi droht auch der neue UN-Sondervermittler Staffan de Mistura zu resignieren. Ist es unmöglich, zu einer Lösung zu kommen, die Syrien Frieden und Freiheit bringt?

Yazbek: Wenn die großen Länder beschließen, das Blutvergießen zu beenden, wird es eine Lösung geben. Wenn sie weiter zusehen und sich um die Kriegsverbrechen nicht kümmern, kann es keine Lösung geben. Was in Syrien geschieht, ist ein Versagen des Gewissens der Welt.

STANDARD: Wie könnte eine politische Lösung für Syrien aussehen?

Yazbek: Assad müsste dazu gebracht werden zurückzutreten. Um die Gewalt zu beenden, müssen die Ursachen der Gewalt beseitigt werden. Die liegen im Assad-Regime. Dann kann man sich mit den Folgen auseinandersetzen, dem IS sowie den Jihadisten und anderen Extremisten. Erst danach können wir darüber nachdenken, wie wir die zerstörte syrische Gesellschaft wieder aufbauen. Vielleicht besteht diese Chance. Durch Entwicklungsmaßnahmen, Bildung und die Einführung von Rechtsstaatlichkeit könnten wir es schaffen.

STANDARD: Wie erklären Sie sich den Zulauf, den der IS hat? Selbst aus Europa schließen sich junge Leute der Terrororganisation an ...

Yazbek: Es gibt viele Faktoren, die den IS für Jugendliche im Westen so attraktiv machen. Der wichtigste ist vermutlich die Religion. Nachdem der IS die Wiedererrichtung des Kalifats ausgerufen hatte, wurde Syrien zu einem Anziehungspunkt für Sunniten aus der ganzen Welt. Auch junge Menschen im Westen, die vielfach arbeitslos sind, fühlen sich von dieser geheimnisvollen, sagenumwobenen Organisation angezogen. Sie sehen in ihr eine Herausforderung, Abenteuer und Gefahren zu bestehen. Wenn Sie sich die Videos anschauen, die Isis veröffentlicht, werden Sie feststellen, dass die meisten Mitglieder keine Syrer sind, sondern Menschen aus dem Westen.

STANDARD: Wenn der IS Macht über weite Teile Syriens hat, was bedeutet das für das Leben der Frauen?

Yazbek: Die Lage der Frauen ist von Region zu Region unterschiedlich, aber insgesamt nicht gut. Am meisten gefährdet sind die Frauen in den Gebieten, die unter der Kontrolle des IS stehen. Dort werden ihnen alle Rechte verwehrt. Sie leben wie Gefangene. In Gebieten, die von Milizen wie der Nusra-Front oder der Ahrar al-Scham kontrolliert werden, ist die Lage etwas weniger schrecklich. Auch hier leiden die Frauen darunter, dass ihnen alle sozialen Kontakte verwehrt werden. Sie sind gezwungen, den Hidschaab zu tragen und sich der Scharia zu unterwerfen. Diese Milizen behandeln Frauen, als wären sie Tiere der untersten Klasse. In den Gebieten, die dem Assad-Regime unterstehen, ist die Lage der Frauen besser. Doch sind sie aufgrund extremer Armut durch den Krieg der Gefahr ausgesetzt, festgenommen, erpresst oder sexuell misshandelt zu werden.

STANDARD: Sie berichten von kleinen Mädchen, die mit alten Männern verheiratet werden. Warum?

Yazbek: Um sie vor dem Hungertod zu bewahren. Die Eltern können sie nicht mehr ernähren. Sie wissen keinen anderen Ausweg, als sie zu verheiraten, selbst wenn sie noch Kinder sind.

STANDARD: Der syrische Schriftsteller Rafik Schami, der seit 1971 im Exil lebt, sagte, Exil und Tod könne man nicht lernen.

Yazbek: Ich werde mich niemals an das Exil gewöhnen. Immerhin sind wir dem syrischen Massaker entkommen. Jetzt haben wir die Aufgabe, eine Brücke zu sein für die noch im Land Verbliebenen und die Erinnerung wachzuhalten an die Verstorbenen. Nachdem ich fünf Jahre keinen literarischen Text mehr geschrieben habe, arbeite ich wieder an einem Roman. Langsam betrete ich das Exil und lerne es kennen. Mit meiner Seele aber bleibe ich in Syrien.

STANDARD: Über die Türkei schreiben Sie, dass sie von den syrischen Flüchtlingen profitiere. Aber begreift man Flüchtlinge nicht eher als Belastung ...

Yazbek: Es wurde eine Menge Geld in die Türkei verschoben. Zwischen den türkischen und syrischen Grenzstädten fand ein lukrativer Handel statt. Die Situation syrischer Flüchtlinge in der Türkei ist besser als in anderen Ländern. Aber was wird geschehen, wenn die Zahl der Flüchtlinge in die Millionen geht und auch die europäischen Länder nicht mehr in der Lage sind, ihnen zu helfen? Schließlich hat Europa selbst mit wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen. Ich hoffe sehr, dass die Europäer sich der syrischen Flüchtlinge annehmen. Immerhin ist ihre Lage eine Folge des Versagens ihrer Regierungen. Das Schicksal der syrischen Flüchtlinge, ihr Ertrinken im Meer und all die Gefahren und Demütigungen, die ihnen begegnen, sind eine Katastrophe. Die wird nur noch übertroffen von der Katastrophe, die innerhalb Syriens vor sich geht.

STANDARD: Haben Sie noch Hoffnung, Ihr Land wiederzusehen?

Yazbek: Ja, diese Hoffnung habe ich, und dafür lebe ich. (Ruth Renée Reif, 13.9.2015)