Der Omphalos vor dem Abheben. Unter dem konischen Marmorrelikt und einer Marmorplatte entdeckten die Archäologen einen 9 Meter tiefen Schacht.

Foto: J. Stroszeck/DAI Athen

Bei der aufwändigen Untersuchnungen des nur 65 Zentimeter breiten Brunnens stellte sich heraus: Es handelt sich um ein Wasserorakel, das Apollon geweiht war

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Die Innenseite des Schachts ist mit Tonplatten verkleidet, auf denen die Forscher die Inschrift "Komm zu mir, oh Paian, und bringe den wahren Orakelspruch mit" entdeckten.

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Athen – Ein deutsches Archäologenteam ist im Athener Stadtteil Kerameikos nordwestlich der Akropolis auf einen Tempel gestoßen, der zunächst als Heiligtum der Hekate interpretiert wurde. Nun stellt sich heraus, dass die Überreste nichts mit der griechischen Göttin der Magie und Wächterin der Tore zwischen den Welten zu tun hat. Der Gebäudekomplex entpuppt sich überraschenderweise als das bisher einzige bekannte Orakelheiligtum des Apollon in Athen.

Zwei Forschungsschwerpunkte

Die Grabungsarbeiten des Deutschen Archäologischen Instituts hatten sich seit ihrem Beginn im Jahr 2012 im Kerameikos auf zwei Forschungsschwerpunkte konzentriert: Den Archäologen ging es in erster Linie um neue Erkenntnisse zum Wassermanagement und zu Kulten und Heiligtümern im antiken Athen.

Die heurige Grabungskampagne galt der Nachuntersuchung eines 600 Quadratmeter großen Heiligtums, in dem sich beide Forschungsschwerpunkte treffen: Das bisher als Heiligtum der Hekate angesehene Areal liegt unmittelbar nördlich des Museums und südlich der berühmten Gräberstraße, deren Wahrzeichen der mächtige marmorne Stier vom Grab eines der einflussreichsten Athener der Jahre um 350 vor unserer Zeitrechnung ist.

Constanze Graml von der Universität Mainz, seit mehreren Jahren Mitarbeiterin der Grabung, ist es nun gelungen, nachzuweisen, dass die bisherige Interpretation als Hekateion korrigiert werden muss, da mehrere Inschriften und andere Funde aus diesem heiligen Bezirk auf die Verehrung der Artemis Soteira, also der Artemis mit dem Beinamen "die Retterin", hinweisen.

Ein vermeintliches Hekate-Heiligtum

Aufgefunden wurde das Heiligtum bereits 1890. Der damalige Ausgräber stützte seine Deutung als Heiligtum der Hekate auf eine Basis mit dreieckiger Einlassung, die an zentraler Stelle in einer Kultnische aufgefunden worden war. Bekanntlich waren die Kultbilder der Hekate dreiseitig, was aber auch auf einige Darstellungen der Artemis zutrifft.

Auffällig ist die Ausrichtung der drei Kulteinrichtungen des Heiligtums in einer Reihe genau nach Norden: ein rechteckiger Altar, ein marmorner Omphalos (ein konisches Steindenkmal) und die Kultnische. Im weiten, durch eine Temenosmauer umgrenzten und heute mit Ölbäumen bepflanzten Hof, der sich südlich anschließt – der heute aber leider durch einen Betonweg für die Besucher irritierend abgetrennt wirkt – befindet sich ein Brunnen mit einem Mündungsstein aus Kalkstein.

Schon 2012 konnten die Wissenschafter feststellen, dass der Omphalos die Öffnung einer darunterliegenden Marmorplatte verschließt. Die früheren Bearbeiter hatten irrtümlich den Omphalos für die sekundär verwendete Unterseite eines marmornen Grabgefäßes (einer sog. Lekythos) gehalten. Ziel der diesjährigen Kampagne war also die Klärung der Funktion des ungewöhnlichen konischen Denkmals und der Öffnung darunter.

Einzigartiges Monument

Schon unmittelbar nach der Abhebung von Omphalos und Marmorplatte wurde klar, dass es sich hier um ein bisher einzigartiges Monument handelt, das aber auch eine Herausforderung für die archäologische Dokumentationsarbeit darstellt. Unter dem Omphalos befindet sich ein rund 9 Meter tiefer, mit Tonzylindern befestigter Brunnen. Mehr als 20 Inschriften auf den Tonzylindern identifizieren den Brunnen als Ort eines Orakels: ΕΛΘΕ ΜΟΙ Ω ΠΑΙΑΝ ΦΕΡΩΝ ΤΟ ΜΑΝΤEΙΟΝ ΑΛΗΘΕΣ.

Übersetzt bedeutet das etwa: "Komm zu mir, oh Paian, und bringe den wahren Orakelspruch mit". Es handelt sich also um eine gebetsartig wiederholte Anrufung der Gottheit, wie sie durch den Rat Suchenden, einen Seher (griechisch Mantis) oder Priester vorgenommen wurde.

Wissenschaftliche Deutung und Präsentation

Paian (‚der Helfende') ist einer der Beinamen des Apollon, der demnach hier mit seiner Schwester Artemis Soteira (der Rettenden) verehrt wurde. Durch die Inschriften im Brunnen wird das Heiligtum als Ort eines Wasserorakels erkennbar. Das Heiligtum ist auch das einzige bislang bekannte Orakelheiligtum des Apollon (griechisch Manteion) in Athen. Der Bezug zum Orakel des Apollon von Delphi – auch dort fand bekanntlich die zentrale Kulthandlung an einem Omphalosmonument statt – ist offensichtlich.

Die anschließende Ausgrabung und sorgfältige Dokumentation des Brunnens fand unter schwierigen Bedingungen statt, da der 9 Meter tiefe Schacht mit nur etwa 65 Zentimeter Durchmesser wenig Bewegungsspielraum bietet. Die Vorbereitungen zur Präsentation des Fundes für Besucher des Kerameikos laufen unterdessen auf Hochtouren. Geplant sind eine Präsentation im Gelände sowie die Aufstellung der Marmororiginale im Museum. Abgüsse des Omphalos wurden durch das Restauratorenteam der Kerameikosgrabung des Deutschen Archäologischen Instituts bereits hergestellt. (red, 11.9.2015)