Es gibt nur die Bilder vom Fernsehen, von den leeren Gassen mit den heruntergelassenen Metallgittern der Läden und Barrikaden, aufgetürmt aus Autos und Felssteinen. Auch die grauen Luftaufnahmen des Militärs sieht man in den Nachrichten, von den flachen Hausdächern und den Straßenecken, so, als ob ein Kriegsgebiet begutachtet wird, vor und nach einer Bombardierung. Doch das ist nicht das benachbarte Syrien oder der Irak, sondern Cizre, die türkische Kurdenstadt im Dreiländereck. 120.000 Einwohner, seit acht Tagen abgeschnitten von der Welt, zum Großteil angeblich ohne Strom und Wasser. "Was hier passiert, ist nicht normal", sagt der junge Anwalt. "Es gibt kein Gesetz in Cizre, die Anweisungen kommen vom MIT." Das ist das Kürzel des türkischen Geheimdiensts.

Zwei Busse mit Anwälten aus Istanbul und aus Großstädten im Südosten der Türkei machen sich am Freitag auf den Weg. Mehmet Önere ist unter ihnen, ein 28 Jahre alter Strafverteidiger aus Diyarbakir. Er will mit seinen Kollegen in die Stadt, die in den Kriegszustand geschlittert ist. "Wir werden der Welt zeigen, wie die Lage ist", so verspricht der kurdische Anwalt, "und wenn sie uns nicht durchlassen, dann probieren wir anderes aus."

Straßensperre bei Midyat.
Foto: Markus Bernath

Denn zwei Fahrtstunden nach Diyarbakir, kurz nach Midyat, der Stadt mit dem großen Kloster der assyrischen Christen, ist Schluss. Panzerwagen der türkischen Gendarmerie und ein großer Wasserwerfer riegeln die Schnellstraße ab. Die Grenzprovinz Şirnak ist nicht mehr weit, 90 Kilometer sind es noch bis Cizre. Die Kurdenstadt ist in Aufruhr, seit Staatschef Tayyip Erdogan und seine konservativ-islamische Regierung Ende Juli den Friedensprozess für beendet erklärten und ein neuer Krieg gegen die Untergrundarmee PKK begann. Die Guerilla ist in der Stadt präsent, so heißt es. Und bewaffnete Mitglieder ihrer Jugendorganisation, die YDG-H, bauen Barrikaden in den Gassen gegen die Armee und die Polizei. Der türkische Staat kann nur wenige öffentliche Gebäude benutzen. Jetzt hat er eine eiserne Glocke über Cizre gestülpt.

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Auch bei Idil ist die Straße gesperrt.
Foto: REUTERS/Sertac Kayar

Der Kurdenkrieg, so ist die weitverbreitete Ansicht in der Türkei, ist losgetreten worden, um die Kurdenpartei HDP zu treffen und Erdogans Partei wieder zur Alleinregierung zu verhelfen. "Die Regierung kämpft nicht wirklich gegen die PKK. Sie fliegen Angriffe im Irak, neun von zehn Bomben treffen die Stellungen der PKK nicht", so glaubt Mehmet Önere, der Anwalt aus Diyarbakir. "Die Regierung kämpft nur gegen die HDP in den Städten." 13 Prozent hatte die Minderheitenpartei bei den Wahlen im vergangenen Juni erhalten und zog erstmals ins Parlament ein. Die Regierungsmehrheit war dahin für die Konservativ-Religiösen. Am Samstag ist Parteitag in Ankara. Der Sessel von Premier Ahmet Davutoglu wackelt angeblich, Erdogans Statthalter und früherer Außenminister ist nicht fügsam genug.

Die Anwälte steigen aus den Bussen, schnell stehen an die 200 Menschen vor den Soldaten am Kontrollpunkt. "Cizre, wir sind stolz auf dich!", skandieren sie. Doch es gibt kein Durchkommen. Der Provinzgouverneur, kontaktiert von einer kurdischen Parlamentsabgeordneten, untersagt es. Er könne nicht für die Sicherheit der Menschen garantieren, habe er erklärt, so berichtet Nursel Aydogan, die Abgeordnete. Die Hitze flimmert über der Steinwüste. Dorfbewohner würden manchmal durchgelassen, dürfen aber nicht mehr zurück, erzählt ein Lkw-Fahrer, der nun selbst mit seinem Kieslader für eine Baustelle vor dem Kontrollpunkt festsitzt.

Inmitten der Menge der Anwälte steht plötzlich Selahattin Demirtaş, der Chef der kurdisch orientierten linken Minderheitenpartei HDP. Seit drei Tagen ist er auf den Straßen und Feldwegen unterwegs und zieht seine Zirkel um die abgeschlossene Stadt. Auch Demirtaş war nicht durchgelassen worden, ebenso wenig wie die zwei Minister der HDP, die nun der türkischen Übergangsregierung angehören, die bis zu den Neuwahlen am 1. November amtieren soll. An den Wahltermin glaubt hier niemand mehr. Die Sicherheitslage und der Druck der Armee machen eine Stimmabgabe in der Region schwer vorstellbar. Acht Zivilisten, darunter ein zehnjähriges Mädchen und seine Mutter, sind in Cizre von der Armee erschossen worden, berichten türkische Medien. Was Israel mit den Palästinensern im Gazastreifen tue, das mache nun die türkische Führung mit den Kurden in Cizre, sagt Demirtaş und wendet sich an den Staatschef: "Die Menschen in Gaza haben nie aufgegeben. Erdogan, glaubst du etwa, die Menschen in Cizre werden angesichts dieser Grausamkeit aufgeben?"

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HDP-Chef Selahattin Demirtaş ist seit Tagen in der Region unterwegs.
Foto: REUTERS/Sertac Kayar

Während Demirtaş in Fernsehmikrofone spricht, dreht sich die Kanone auf dem Dach des Wasserwerfers drohend zu ihm und zur Menge, die den prominenten Kurdenpolitiker umringt. Dann braust Demirtaş in einem Wagen davon. Er bleibt in der Region, er will nicht aufgeben. Für die Verhängung eines Ausnahmezustands in einer Provinz gäbe es genaue rechtliche Vorschriften. Die will Demirtaş nun vor Gericht einklagen. Die Anwälte aber sind unschlüssig, was nun zu tun ist. Tahir Elci, der Präsident der Anwältekammer in Diyarbakir, ist gegen einen Fußmarsch nach Cizre. Das dauere Tage, sagt der inoffizielle Anführer der Aktivisten, es sei auch viel zu heiß. Kleinere Gruppen, die sich beim Marsch abwechselten und hier und da mit Fahrzeugen weitergebracht würden, wären sinnvoller. "Warum sind wir dann alle zusammen hierhergekommen?", empört sich eine Anwältin aus Istanbul. Man streitet, protestiert wieder vor den Gendarmen. Nachmittags um halb vier zieht ein Teil los über einen Feldweg, in weitem Kreis um die Straßensperre der Armee. Mehmet Önere, der junge Anwalt aus Diyarbakir, ist auch dabei. (Markus Bernath aus Midyat, 11.9.2015)