Über Hilfsbereitschaft heißt es bei Wikipedia: Sie dient dazu, einen erkannten Mangel oder eine änderungswürdige Situation oder eine Notlage zu verbessern. Auf Ungarisch heißt das Wort "Segítökészség", aber was die Flüchtlinge angeht, die uns nun schon einen ganzen Sommer lang beschäftigen, waren die Ungarn zur Hilfe nicht bereit. Stattdessen entschieden sie sich in Gestalt ihres Chefs Viktor Orbán, der schon lange den großen Unsympathler innerhalb der EU markiert, den Flüchtlingen einen Tritt in den Allerwertesten zu verpassen, die Polizisten führten den Auftrag aus.

Ganz anders wir Österreicher!

Mit den Wellen, die Orbáns Tritte erzeugten, wurden am Samstag, dem 5. September 2015, über 6000 Flüchtlinge von Ungarn nach Österreich gespült, und zwar in den Wiener Westbahnhof, der auch nach seiner Renovierung 2010 ein Kopfbahnhof geblieben ist. Modernisiert zwar und mit Bänken ausgestattet, auf denen man nicht mehr schlafen kann, sowie mit Security-Personal, das in den letzten Jahren allen, die sich ohne Fahrkarte hier herumtrieben, einen symbolischen Tritt à la Orbán verpasste.

Der Wiener Westbahnhof: In Zeiten totaler Vernetzung über Smartphones müssen Abfahrtszeiten der Züge und andere Informationen an die Wand geklebt werden ...

Aber an diesem Tag und am darauf folgenden ist alles anders: Die Elenden der Stadt und die neu Dazugekommenen erobern sich den Bahnhof zurück, und selbst der Bahnchef sagt sinngemäß: Es gibt eine Zeit für übertriebene Ordnung, und eine Zeit, sich nicht an die Vorschriften zu halten, um zu helfen.

Aufnahmestopp für Hilfsgüter

Es ist früher Nachmittag, als ein Freund mich anruft und sagt: "Sie brauchen Taschen!" Eine Polizistin hat eine Fahrspur an der Nordseite des Bahnhofs für Einsatzfahrzeuge gesperrt. Vorne bei den Taxistandplätzen, hinter dem stets unbenutzten Fahrradabstellplatz, hindert ein Absperrband die Taxler am Zufahren.

Im Bereich um Bahnsteig 9, dort, wo sonst die Autoreisezüge aufgeladen werden, herrscht bereits so etwas wie Flohmarktstimmung: An die Wand gedrückt, haben Helfer und Helferinnen, Junge und Alte, ihre Hilfsgüter ausgelegt, Neues und Gebrauchtes, Gespendetes und Gekauftes, es ist beinahe alles da, was man als Neuankömmling benötigt.

Die Profis unter den Helfern sind selbst Freiwillige, aber sie tragen rote Shirts oder Jacken, auf denen Caritas steht, und sie organisieren das alles hier perfekt. Taschen brauchen sie aber gerade nicht, und bald heißt es sowieso: Aufnahmestopp für Hilfsgüter!

Das Transportmittel des Tages heißt natürlich Railjet nach München, den wollen alle ankommenden Flüchtlinge ergattern, mit oder ohne Fahrkarte. Für Tickets wird hinter einem gesonderten Tischchen an der Wand, weiter in Richtung Bahnsteig 1, wo die Hilfsorganisationen ihre Lager aufgebaut haben, gesammelt. "Please donate!", wird man aufgefordert, eine gläserne Sammelbox wird herumgetragen, sie ist voll mit Zehnern und Zwanzigern.

An dieser Wand des Bahnhofs erlebt auch der gute, alte, weiße DIN-A4-Zettel in Kombination mit dem Edding seine wohlverdiente Renaissance. In Zeiten totaler Vernetzung über Smartphone müssen Abfahrtszeiten der Züge und andere Informationen an die Wand geklebt werden, auch tragen viele Helfer einen Zettel an die eigene Brust geklebt, wo dann draufsteht, was man im Angebot hat: "English!", "Arab!" oder "Room to sleep".

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Helfer haben sich auf die Brust geklebt, welche Sprachen sie sprechen.
Foto: APA/ROBERT JAEGER

Gleich nach dem Railjet ist heute der normale Einkaufswagen von größter Bedeutung. In ihm werden Hilfsgüter hin und her geschoben, eskortiert und durch die Menge geschleust, jeweils von Caritas-Mitarbeitern. Wasserflaschen nach links, Kekse eher zu den äußeren Bahnsteigen nach rechts. "Wo sind die Windeln?", ruft jemand.

Die liegen vorne bei den Kleidern, und eine Frau, die trotz aller Nachrichten nicht zu kapieren scheint, worum es hier eigentlich geht und was hier so läuft, möchte unbedingt einen Sack davon kaufen. Die Sprache, in der man ihr erklären könnte, dass das hier kein Wochenmarkt ist, spricht gerade leider niemand, und so dauert es, bis sie den Windelsack endlich loslässt und beleidigt abzieht.

Heute ist Flüchtlingstag

Chris Lohner bringt das alles nicht aus der Ruhe, die Stimme der ÖBB weiß in bestem ORF-Sprecherinnendeutsch über Lautsprecher zu berichten: "Regionalzug aus Attnang-Puchheim fährt ein!" Das ist noch nicht der, auf den alle Hilfsbereiten warten, und man tut den Attnang-Puchheimern und allen auf dem Weg hierher Zugestiegenen vielleicht ein wenig unrecht, wenn man ihnen nicht die Aufmerksamkeit schenkt, die sie ohne Zweifel auch verdienen. Aber heute ist eben Flüchtlingstag, und Österreich ist fest entschlossen, der Welt zu zeigen, dass wir keine Ungarn sind und einiges mehr zu bieten haben als Mieselsucht und Hasstiraden unter H.-C. Straches Facebook-Postings. Die Stimmung ist richtig gut, beinahe ein wenig Occupy-mäßig, und es würde einen nicht überraschen, wenn plötzlich irgendwo der Bart von Slavoj Zizek auftauchen würde.

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Ein Kind hat einen der begehrten Plätze in einem der Züge ergattert.
Foto: AP/Zak

Die endlich ankommenden Flüchtlinge werden dann mit Applaus begrüßt, was trotz aller Freude über ihre glückliche Ankunft ein wenig seltsam wirkt. Sie verteilen sich müde vor den Bahnsteigen, sitzen in Ecken herum oder gegen Mauern gelehnt, einzeln oder in Gruppen. Es sind viele Familien mit kleinen Kindern dabei, Mütter tragen ihre Babys, ein Vater frisiert seiner Tochter mit dankbar entgegengenommener Bürste die Haare. Die Anzahl der gesichteten Smartphones ist dazu angetan, jeden durchschnittlichen Kronen-Zeitung-Leser in den Wahnsinn zu treiben, die Ständer ihrer Zeitung und die der Gratiszeitungen, die hier überall herumstehen, sind mit Fladenbrot bestapelt. Manche Flüchtlinge wirken verloren und vollkommen verarmt, andere, vor allem junge, sind durchaus schick gekleidet. Mit Parker, engen Jeans zu Sneakers und der Freundin im Arm könnten sie auch aus dem Veggie-Burger-Laden im angrenzenden Hipsterbezirk Wien-Neubau kommen. Sie müssten sich nur noch Hipsterbärte wachsen lassen und sich die Kinderbrillen von Rayban aufsetzen.

Glückliche Helfer

Auf der anderen Seite, auf derer, die ihnen helfen wollen, laufen heute Väter mit ihren Kindern zur Pizzeria und kommen begeistert mit fünf Kartons zurück, die ihnen aus der Hand gerissen werden. Viele Frauen um die 40 sind hier und balancieren Köstlichkeiten auf Tabletts, eine war beim Italiener und bietet "Makkaroni!" an, auf ein "No, thanks!" ist sie dann nicht vorbereitet. Jemand aus der Steiermark, heißt es plötzlich mit Rufzeichen, wäre extra hergekommen, um eine Familie mitzunehmen, aber da gibt es ein Problem mit der Bürokratie! Angebote für "Rooms for refugees" werden in einer Ecke neben dem Asia-Food vor Bahnsteig 1 entgegengenommen, die meisten Flüchtlinge jedoch wollen ohnehin sofort weiterreisen. Nicht einmal die wunderschöne ältere Dame, die mit einem Lächeln aus den Tiefen ihres großen Herzens Bananen, Trauben und Zwetschken auf Glasgeschirr, das sie von zu Hause mitgebracht haben muss, anbietet, wird sie halten. Und eine 83-jährige – wie sie selbst sagt: krebskranke – Sudentendeutsche mit Rollator, die den ganzen Weg aus Nussdorf im Norden Wiens hierhergekommen ist mit zwei Sackerln, die sie unbedingt einer Mutter und ihrem Kind geben möchte, aber keinen Männern – sie findet und findet keine Abnehmer für ihre Gaben in dem ganzen Gewusel.

Wiener Westbahnhof: Es sind viele Familien mit kleinen Kindern dabei, Mütter tragen ihre Babys. Die Anzahl der gesichteten Smartphones ist dazu angetan, jeden durchschnittlichen "Kronen Zeitung" -Leser in den Wahnsinn zu treiben.

Als ein Zug mit Fußballfans aus Österreichs Westen auf Bahnsteig 6 einfährt, kriegt der ganze schöne und friedliche Nachmittag plötzlich ein wenig Spannung. Am Vortag hat die österreichische Nationalmannschaft auf Facebook "Respect for Refugees" eingefordert, und nun werden rot-weiß-rote Fahnen geschwenkt, Bierdosen leergetrunken, und alle singen "Immer wieder Österreich!". Einer privaten Helferin stößt das sauer auf, sie tut, als würde sie gerade das Horst-Wessel-Lied hören. Unangebrachten Chauvinismus und Nationalismus als Statement gegen die Flüchtlinge vermutet sie hinter den Gesängen und findet das unerhört. Ich kläre sie auf, dass heute Abend Fußball ist, aber das beruhigt sie gar nicht. "Na trotzdem!", faucht sie. "Ist das notwendig?"

Eine leicht hysterische Reporterin, für irgendeinen Pimperlsender unterwegs oder nur für ihren eigenen Youtube-Kanal, mit Kamera und umgeschnallter Technik ausgerüstet, wittert einen Scoop: Flüchtlinge gegen Fußballfans! Das gab es zuvor in Budapest. Sie läuft den Fans in die untere Bahnhofsebene nach, wo sie eine Traube Jugendlicher filmt, die ihr den Stinkefinger vor die Kamera halten. Sie kontert mit: "This ist official!"

"WELCOME"

Zurück auf den Bahnsteigen höre ich drei junge Syrer "Allemani! Allemani!" singen. Deutschland hat im Fußball schon gestern gewonnen, aber deswegen singen sie nicht. Auf Schildern, Pappkartons oder schlichten Zetteln wird Österreich, den wunderbaren Menschen im Allgemeinen und der Regierung im Besonderen gedankt, aber auch immer wieder Frau Merkel. Die war schon vorher sehr beliebt in Deutschland, außer bei denen, die ihr Vizekanzler als "Pack" bezeichnete, weil sie Asylantenheime anzünden, und nun ist sie noch beliebter. Ein "WELCOME" -Schild aus Pappkarton wird hochgehalten, darunter sammeln sich glückliche Helfer, glückliche Schaulustige und glückliche Flüchtlinge, und jeder, der will, kann Fotos von sich zusammen mit ein paar Flüchtlingen machen lassen. Mittlerweile ist es ein bisschen wie im Prater.

Gulzada, ein freundlicher 21-jähriger Afghane mit glänzendem schwarzem Haar, steht verloren herum wie manch anderer auch, und ich frage ihn, ob er Englisch spricht und warum er hier ist. Er antwortet in tadellosem Deutsch, dass er Farsi, Paschtu, Urdu, Englisch, Deutsch und Hindi spricht. Er ist hierher zum Bahnhof gekommen, weil "alle Moslems eine große Familie" wären. Er kann mir gar nicht sagen, wie super er Österreich findet, beinahe fängt er an zu hüpfen, als er es doch versucht: "So super! So freundlich! So lieb!" Man bekommt einen anderen Blick auf sich selbst und die eigenen Landsleute, wenn man mit Zugewanderten spricht, in so hellem Licht sieht man sich ja selbst eher selten. Es war 2010, als Gulzada aus Afghanistan geflüchtet und nach "Europa" gekommen ist, von dem er zuvor schon gehört hatte, von "London" auch und natürlich von "Allemani". Fünf Tage war er in einen Lkw eingesperrt, dann war er in "Austria", von dem er allerdings noch nie gehört hatte. "Einen Monat und 24 Tage" war er in Traiskirchen, was für ihn damals natürlich auch "super" war, er lernte dort "das ABC" und hatte ein "eigenes Zimmer, supersauber, alles super". Aber das war 2010. Nun ist er Koch in einem indischen Restaurant.

Glückliche Schaulustige

Um 21 Uhr soll noch ein Zug aus Ungarn kommen, heißt es. Genügend Zeit also, um sich ein wenig umzuschauen und das Elend zu betrachten, das sich auch ohne Flüchtlinge beinahe wie in konzentrischen Kreisen um den Bahnhof herum zeigt: An den Durchgängen von den Bahnsteigen zur Bahnhofshalle sind Gruppen von Bettlern aufgetaucht, Ungarn zum Beispiel, die normalerweise auf dem Urban-Loritz-Platz kampieren, oder die Vielzahl an Roma, die normalerweise über die Stadt verteilt betteln. Hinter einem Aschenbecher vor dem Bahnhofseingang wird von einem einheimischen jungen Pärchen, das völlig zugedröhnt ist, Wodka mit Cola gemixt, und etwas außerhalb des Bahnhofs, bei der U-Bahn-Station zwischen den Gürtel-Autobahnen, ist ein Afrikaner schon reichlich bedient und predigt von Gott.

Glückliche Flüchtlinge

Dieses Ausmaß an sichtbarer Not mag einem älteren Paar aus Tirol, trotz Predigt, nicht ganz geheuer sein. Ein wenig ängstlich versteckt es sich vor der geplanten Abreise in einer Nische hinter einer Gruppe Polizisten. "Es gibt viel zu wenig von euch!", feuert der Mann die Ordnungshüter an. "Das Sparprogramm war der Kardinalfehler." Er meint wohl das von Schwarz-Blau. Die Polizisten sind allesamt von der ruhigen, routinierten und unaufgeregten Art und hören sich auch das an, so wie sie sich an diesem Tag so ziemlich alles anhören, von Lob über Kritik bis Beschimpfungen.

Am nächsten Tag, dem Sonntag, entdeckt eine der hilfsbereiten Damen um die 40 einen kleinwüchsigen Krüppel, der von einer Gruppe Bettler in einer Ecke abgeschirmt wird, zusammen mit den Plastiksäcken voll mit Erobertem, in denen sie Essen und alles Mögliche, das sie ergattern konnten, sammeln. Die Hilfsbereite hat eine Wollhaube mit und möchte sie ihm schenken, seine Leute heben ihn aus der Ecke hervor, und er lässt sich das Teil von ihr überziehen. Das Foto, das sie dann noch von ihm macht, dient ihr wohl als Beweis für die gute Tat, dann ist sie weg. Minuten später verlassen auch die Bettler den Bahnhof, für sie war die Veranstaltung eigentlich nicht gedacht, aber soll keiner sagen, sie wären nicht auch bedürftig! Sie schleppen den Kumpel mit seiner neue Haube hinaus vor den Bahnhof, wo schon andere auf sie warten. An den Gummistiefeln von einem baumeln noch die Preispickerl.

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"Gleich nach dem Railjet ist heute der normale Einkaufswagen von größter Bedeutung. In ihm werden Hilfsgüter hin und her geschoben, eskortiert und durch die Menge geschleust."
Foto: APA/ROLAND SCHLAGER

Kurz nach zehn Uhr kommt auf Bahnsteig 3 wieder Hektik auf, der Zug aus Hegyeshalom fährt 59 Minuten verspätet ein. Die Karawane der Helfer setzt sich in Bewegung, mittlerweile sind zahlreiche Kameras da, einige Journalisten sprechen Englisch, Caritas- und ÖBB-Mitarbeiter organisieren den Exodus der Ankommenden. Der Zugführer lehnt sich aus dem Fenster heraus und blickt auf die, die er hierhergebracht hat, auch er wirkt müde. Man muss es leider sagen: Nun hat das Ganze schon den Charakter einer Fleischbeschau, und es herrscht beinahe so etwas wie ein Gerangel um die besten Plätze. Wer seine Kekse, seinen Kaffee, seine Brezerln an den Mann, an die Frau, an das Kind bringen will, muss gut postiert sein.

Eine Betrunkene mit einer Dose Stiegl in der Hand, Sponsor des gestern siegreichen Fußballteams, grölt plötzlich: "Donald Tusk!" Ich setze mich zu ihr, sie heißt Miroslawa und wurde 1961 im polnischen Losice geboren. "Gestern mein Freund, hat er mich weggeschmissen", sagt sie. Er hieß Johannes, und sie wohnte bei ihm in St. Pölten, gestern hat sie Anzeige wegen Körperverletzung gegen ihn erstattet. Ihr Bruder, schwört sie mir, würde mit Donald Tusk persönlich "Piwo trinken", sie selbst kannte Lech Walesa und kämpfte in seiner Solidarnosc, sagt sie. Ein Sohn von ihr hat sich umgebracht, ein anderer wohnt im elften Bezirk. Heute fährt sie zurück nach Polen, oder auch nicht. Wie sie das Flüchtlingsproblem lösen würde? "Jeder Mensch muss ein bissi weniger Hassen haben."

Früher hat sie Champignons angebaut und in die EU geliefert, "5000 Stück im Monat", erzählt sie mir noch, während die Flüchtlinge an uns vorbeiziehen, voll Hoffnung auf ein besseres Leben.

Wer denkt, dass in diesem Europa nur die Flüchtlinge Probleme haben, der irrt. (Manfred Rebhandl, 13.9.2015)

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Foto: APA/ROLAND SCHLAGER