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Jeremy Corbyn erhielt 59,5 Prozent der Stimmen.

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Corbyn spricht nach seinem Wahlerfolg in einem Pub in London.

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Corbyn bei einer Pro-Flüchtlings-Demonstration am Samstag in London.

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London – Nach Jahrzehnten auf den hintersten Bänken der Politik ist der Sozialist Jeremy Corbyn triumphal zum neuen Chef der britischen Labour Party gewählt worden. Der 66-jährige Pazifist erhielt in der Urwahl 59,5 Prozent der Stimmen, wie am Samstag auf einem Sonderparteitag in London verkündet wurde.

In seiner Dankesrede geißelte Corbyn "groteske Ausmaße an Ungleichheit" in Großbritannien und rief zum Aufbau einer "besseren Gesellschaft" auf. Corbyn gehört zu den energischsten Kritikern der Sparpolitik des konservativen Regierungschefs David Cameron, er will seine Partei weit nach links ausrichten. Höhere Steuern für Reiche, eine Verstaatlichung von Schlüsselindustrien, die Abschaffung der britischen Atomwaffen und die Aufnahme von mehr Flüchtlingen gehörten im Wahlkampf zu seinen Kernzielen.

Blair warnte vor Corbyn

Der dreimalige Premierminister und langjährige Labour-Chef Tony Blair hatte gewarnt, Corbyns Wahl werde zur "Vernichtung" der Partei führen, weil er alle moderateren Wähler in die Arme von Cameron treibe.

Corbyn war als krasser Außenseiter ins Rennen gestartet. Bei seinen Auftritten – meist in Sandalen und oft mit Teetasse in der Hand – weckte er dann vor allem bei Studenten, bei Gewerkschaftern und den Enttäuschten im Labour-Lager die Hoffnung auf einen Neustart links der Mitte. Sein deutlicher Sieg zeige, dass die Partei "vereint und absolut entschlossen" für eine "bessere Gesellschaft" kämpfe, sagte der 66-Jährige nach Verkündigung des Ergebnisses.

In der Parlamentsfraktion wird der neue Parteichef aber mit kräftigem Gegenwind rechnen müssen. Die linksorientierte Zeitung "Guardian" sieht "fundamentale" Gräben zwischen den meisten Abgeordneten und der neuen Parteispitze, die Labour insgesamt "destabilisieren" könnten.

Doch die Entscheidung der Basis – wählen konnten auch viele Nicht-Mitglieder, wenn sie drei Pfund zahlten – war eindeutig: Die drei anderen Kandidaten Andy Burnham, Yvette Cooper und Liz Kendall, die alle drei die Partei weiter in der Mitte verankern wollten, kamen zusammen auf lediglich gut 40 Prozent.

Miliband tritt ab

Die Wahl eines neuen Parteichefs war notwendig geworden, nachdem Ed Miliband – der einen behutsamen Linksschwenk versucht hatte – bei der Parlamentswahl im Mai in Bausch und Bogen gegen den marktorientierten Premier Cameron verloren hatte und darauf vom Parteivorsitz zurückgetreten war.

Corbyn rief nach seiner Krönung Premierminister Cameron auf, mehr "Mitleid" mit den Flüchtlingen zu zeigen. Als eine seiner ersten Handlungen als Parteichef machte er sich zu einer Großkundgebung auf, bei der am Samstag in London tausende Menschen die Aufnahme von mehr Flüchtlingen forderten.

Der Triumph des linken Anti-Establishment-Kandidaten und Sparkurs-Gegners wurde oft in einer Linie mit dem Aufstieg von Linkspolitiker Alexis Tsipras in Griechenland und dem Erfolg der Podemos-Bewegung in Spanien gesehen. Die Podemos-Führung schickte am Samstag auch einen der ersten Glückwünsche nach London: Der Sieg Corbyns sei eine tolle Neuigkeit und "ein Schritt nach vorn bei der Veränderung Europas", hieß es in einer Twitter-Nachricht aus Spanien.

Über 500 Mal gegen Parteilinie gestimmt

Von seinen Anhängern wird der neue Labour-Chef als Heilsbringer gefeiert. In seinen 32 Jahren im britischen Unterhaus blieb Corbyn stets Hinterbänkler. Er erarbeitet sich schnell einen Ruf als notorischer Rebell. Mehr als 500 Mal soll der Sohn eines Ingenieurs und einer Mathematiklehrerin gegen die Parteilinie gestimmt haben. Unter anderem war er ein erbitterter Gegner des Irak-Kriegs und des von Tony Blair vertretenen wirtschaftsfreundlichen New-Labour-Kurses.

Der Abgeordnete des Londoner Wahlkreises Islington Nord will unter anderem die Bahn wieder verstaatlichen, den Sparkurs beenden, Reiche höher besteuern und die britischen Atomwaffen abschaffen. Kritisiert wurde und wird er für seine Haltung zur radikalislamischen Hamas und zur Schiitenmiliz Hisbollah, die er öffentlich als "Freunde" bezeichnet hat. Davon hat er sich inzwischen distanziert.

"Corbynmania"

Mit seinen pastellfarbenen Hemden und beigen Jacketts wirkt Corbyn wie ein Sozialkundelehrer. Er gilt als aufrichtig und direkt – die Eigenschaft, die seine Anhänger am meisten bewundern. Zu seinen Wahlkampfautritten kamen Tausende, es war die Rede von einer "Corbynmania". Kritiker halten ihn für ungeeignet als Premierminister und befürchten, dass er mit seinen – für britische Verhältnisse – radikalen Positionen die Labour Party spalten werde. (APA/red, 12.9.2015)