In der Gasse liegt eine Kuh, der Leib aufgebläht von der Hitze, und in der kleinen Moschee dieses ärmlichen Stadtviertels, so berichten die Anwohner, ein Sarg mit der Leiche eines Mannes. Auch Teile einer anderen Leiche könne man dort anschauen, sagen sie. Es riecht nach Tod und Fäkalien in Nur, einem der Stadtviertel von Cizre im Südosten der Türkei an der Grenze zu Syrien und dem Irak, wo sich die Jugend der kurdischen Untergrundarmee PKK verschanzt hatte. Stromkabel hängen auf den Boden, hundert Meter lang, und wenn man über das Steinpflaster geht, klirren die Patronenhülsen. Ganze Berge davon liegen in den Gassen verstreut.

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Bürger der Stadt Cizre vor einem zerstörten Auto am Samstag.
Foto: Selahattin Sevi/ CHA via AP

Nach und nach kommen die Menschen auf die Straßen an diesem frühen Samstagmorgen. Entsetzen steht auf ihren Gesichtern, Erschöpfung nach einem acht Tage dauernden Albtraum. Doch alles ist ganz real nach dem Ende des Ausnahmezustands in der Kurdenstadt Cizre. Die Einschusslöcher in den Häusern, manche faustgroß. Zerborstene Mauersteine und Wasserleitungen. Die Metalltore der Häuser, die verbogen auf dem Boden liegen, eingerammt von den Panzerwagen der Armee. Und ein Toter mehr, ein alter Mann, der als Einsammler von Brotresten bekannt war. Er wurde noch am Morgen von einem Scharfschützen in einer Parallelstrasse mit einem Kopfschuss getötet, so erzählt Cihan Ölmez, der Lokalkorrespondent der kurdischen Nachrichtenagentur Dicle in Cizre. Vergeblich versucht der Journalist seinen Computer im Büro zu starten. Es gibt keinen Strom. Auch das Mobilnetz bleibt vorerst abgeschaltet.

Babyleiche im Kühlschrank

"Ich dachte, wir kommen nicht mehr lebend aus dieser Straße heraus", berichtet Leyla Imret, die Ko-Bürgermeisterin der Stadt. Sie wohnt im Zentrum von Nur, dem Schauplatz der schwersten Angriffe. Imret ist am Freitag vom türkischen Innenminister von ihrem Amt entbunden worden. Unterstützung terroristischer Aktivitäten, lautet der Vorwurf. 18 Kinder leben in ihrem Wohnblock. "Sie haben nur geweint. Wir hatten irgendwann auch keine Babynahrung mehr. Von dem Wasser, das wir getrunken haben, ist uns schlecht geworden." Zwei Tage sei eine Leiche auf der Straße gelegen, erzählt die Bürgermeisterin. Sie konnte nicht weggetragen werden. Ein zwei Monate altes Baby sei krank geworden und gestorben. Die Eltern haben die Leiche in den Kühlschrank gelegt.

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Nach Aufhebung des Ausgangssperre begeben sich die Bewohner von Cizre am Samstag wieder auf die Straßen.
Foto: Selahattin Sevi/ CHA via AP

"Es war kein Kampf. Für einen Kampf gibt es zwei Seiten", sagt Mustafa, ein junger Bauunternehmer, der nun auch auf der Straße ist. "Das hier war nur Mord, verübt von einer Seite." 30 PKK-Kämpfer und ein Zivilist seien getötet worden, gab der türkische Innenminister vergangenen Donnerstag an. Mindestens 20 Zivilisten sollen gestorben sein, sagen die Einwohner. Am Sonntag wurden 16 Menschen begraben. Aber es gab ja auch niemanden bei der städtischen Polizei oder im Spital, der hätte Bilanz führen können. Cizre war Kriegsgebiet, abgeschnitten von der Außenwelt, die 120.000 Einwohner in Kellern und Wohnungen verborgen.

Lange Bärte

"Ich habe sie gesehen, wenn ich aus dem Fenster geschaut habe", erzählt Xanim Gözce, eine Mutter von sieben Kindern. "Tagsüber sind sie in Shorts herumgegangen und haben Kebap gegessen, als ob nichts wäre." Nachts vor allem wurde geschossen. Männer mit langen Bärten sollen es gewesen sein, Spezialkräfte der türkischen Polizei ohne Uniform, die rücksichtslos um sich gefeuert hätten. Es gibt Schäden, die auf gezielte Zerstörungen hinweisen: die durchschossenen Wassertanks auf den Häuserdächern, die explodierten Kästen von Klimaanlagen an sonst unversehrt gebliebenen Hausmauern; die Transformatoren auf den Strommasten natürlich oder eine ausgebrannte Bäckerei. Was nun werden soll? "Ich habe nur das", sagt Abdullah Igdi und deutet auf seinen Eckladen in einem schiefen Haus. Putzmittel und Schnüre liegen verstreut hinter den zerschossenen Fensterscheiben.

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Ein zerstörtes Fenster nach Kämpfen in Cizre.
Foto: REUTERS/Sertac Kayar

"Die HDP hat hier 96 Prozent gekommen. Seither sind wir zum Ziel geworden", sagt ein anderer der Umstehenden auf der Gasse. Das ist die eine große Erklärung, die sie in Cizre für den Angriff haben. Dass Staatschef Tayyip Erdogan den neuen Krieg mit der PKK aus politischem Kalkül losgetreten hat, ist mittlerweile eine weit verbreitete Ansicht im Land. Erdogan wolle die kurdisch dominierte Partei der Demokratischen Völker (HDP) zur Terroristenpartei stempeln und ihr damit Stimmen wegnehmen. Bei den Parlamentswahlen im Juni hatte der Einzug der HDP verhindert, dass Erdogans konservativ-islamische AKP allein weiterregieren kann. Darum wird nun nochmals gewählt. In sieben Wochen, am 1. November, soll der Termin sein.

Barrikaden und Gräben

Doch die andere Erklärung für die Verhängung der Ausgangssperre am 4. September gibt es auch. 60 Barrikaden hatte die militante PKK-Jugend nach offiziellen Angaben in den Straßen von Cizre errichtet und Dutzende von Gräben ausgehoben, um die Einfahrt der Artilleriewagen der Armee zu verhindern. Nach drei Tagen war der Widerstand der Y-DGH, der Patriotischen Revolutionären Jugendbewegung gebrochen, erzählen die Anwohner. Wo die bewaffneten Jugendlichen nun sind, will niemand wissen. "Keine Ahnung", sagt Mustafa, der Bauunternehmer, "wir haben sie nicht mehr gesehen". Nur die Graffiti mit dem Kürzel der PKK-Jugendorganisation an den Hausmauern sind geblieben und manche der aus schweren Felssteinen errichteten Barrikaden. Auf einer steckt noch die zerrissene dunkelrote Fahne von Rojava, dem Kurdengebiet auf der syrischen Seite.

Vahap Coşkun, ein Jus-Dozent an der Dicle-Universität in Diyarbakir, der wichtigsten Stadt der Kurden in der Türkei, vier Autostunden entfernt von Cizre, schlägt bemerkenswert deutliche Worte an. "Die PKK bringt den Krieg in die Städte", sagte er in einem Telefoninterview am Samstag. Die Guerillaarmee habe Cizre ausgewählt, weil sie dort offenbar ein hohes Potenzial gesehen habe und glaubte, den türkischen Staat und die Bevölkerung gegeneinander aufzubringen. "Die PKK ruft die Autonomie in Städten wie Cizre aus, wo sie Mitglieder und Waffen hat. Das halte ich für völlig falsch. Kurden verlieren deshalb ihr Leben", erklärte Coşkun. Nach der Parlamentswahl im Juni habe die HDP die Chance gehabt, eine aktive politische Rolle in der Türkei zu spielen. Doch die Gewalt, die seither ausbrach, mache das unmöglich, sagt der kurdische Jus-Dozent: "Die PKK schadet der HDP am meisten. Wenn man bereits die Stadtverwaltung führt, wem gegenüber ruft man dann eine Selbstverwaltung aus?"

"Erdogan Mörder"-Rufe

Ein Wagen des Ordnungsamts taucht auf. "Seid vorsichtig, rührt nichts an, was auf dem Boden liegt", tönt es aus dem Lautsprecher. Alle Mitglieder des Stadtrats sollen zum Rathaus kommen. In Cizre beginnt wieder das Leben. Am Vormittag, wenige Stunden nach Aufhebung der Ausgangssperre, strömen auch Hunderte vor das Parteigebäude der in Cizre regierenden HDP. Die erste, frisch angelieferte Milch wird ausgegeben und Eis zum Kühlen in langen Blöcken. "Erdogan Mörder", skandiert die aufgebrachte, meist junge Menge immer wieder und spreizt zwei Finger zum Siegeszeichen.

Eine Menschenmenge vor dem Parteigebäude der HDP und BDP in Cizre am Samstagvormittag.
maan

Selahattin Demirtaş, der Ko-Vorsitzende der Partei, trifft unter Jubelrufen ein. Tagelang hat er vergeblich versucht, zu Fuß und mit dem Auto an den Straßensperren der Armee vorbei zur Stadt zu gelangen. Jetzt lässt sich der Kurdenpolitiker nach einem Rundgang durch Cizre mit einem Bus aus der immer größer werdenden Menge fahren. Eine Rede hält er nicht. Acht Tage Gewalt und Ausnahmezustand haben nichts getan, um die Einwohner in Cizre von der Unterstützung für die Untergrundarmee abzubringen, so scheint es. "Die PKK ist das Volk, das Volk ist die PKK!", ruft die Menge. Sonntagabend verhängte der Gouverneur erneut eine Ausgangssperre. Sie wurde Montagmorgen wieder aufgehoben. (Markus Bernath aus Cizre, 14.9.2015)