Millionen Menschen sind auf der Flucht. Fliehen vor Krieg und Leid. Auf der Flucht in ein neues Leben. Ein Leben ohne Angst, ohne Krieg, ohne Not. Hunderttausende Menschen brauchen die Hilfe Europas.

Die Flüchtlingsthematik überschattet derzeit sämtliche innen- wie außenpolitischen Debatten. Es scheint, als verlören sich die politischen Entscheidungsträger zu oft in einem Mikromanagement, ohne in einer Gesamtschau die Folgen der Ereignisse für die Union, den Staat, die österreichische Gesellschaft und vor allem für die Flüchtlinge zu erfassen.

Das großartige Engagement der Bürger zeigt zweierlei: einerseits, dass der verantwortungsbewusste Bürgerstaat lebendig ist, und andererseits, dass die Bundesregierung und die europäischen Gremien überfordert sind.

Das Engagement vieler Helfer etwa an der Staatsgrenze oder am Wiener Westbahnhof zeigt schonungslos auf, wie die faktische Überanstrengung der staatlichen Behördenkapazitäten durch konsistent falsche oder vertagte Entscheidungen politischer Entscheider herbeigeführt wurde.

Mit der Entwicklung der Flüchtlingssituation war auch der Eintritt der Wirkung der "clausula rebus sic stantibus" auf Dublin III und das Schengen-Abkommen als höchstwahrscheinliche Folge vorhersehbar. Den österreichischen wie auch den europäischen Behörden ist diesbezüglich vorzuwerfen, dass sie zuerst gar keine Entscheidungen trafen, und nun – unter größtem Zeitdruck – Entscheidungen treffen müssen, die sich nicht mehr mit dem decken, was geplant war. Zum Glück kann man hier wohl nur sagen.

Unhaltbare Regeln

Der Grundsatz "pacta sunt servanda", wie ihn das offizielle Ungarn etwa betont, klingt in einem Zusammenhang, in dem Menschen in Not sind, stets verknöchert und unbeholfen. Fakt ist, die EU hat sich, wieder einmal, Regeln auferlegt, die schlichtweg unhaltbar sind. Die Rechtsstaatlichkeit der Mitgliedstaaten sowie die Menschenrechtskonvention sind und bleiben das Fundament Europas. Diverse Verträge, ihre Haltbarkeit und ihre Sinnhaftigkeit wurden bedauerlicherweise schon im Rahmen der Finanzkrise strapaziert und scheinen durch das Flüchtlingsthema in erschreckendem Ausmaß erschüttert.

Letztlich sollte Europa eine Festung sein! Eine Festung der Menschlichkeit. Menschlichkeit im Sinne von rechtsstaatlicher Verbindlichkeit, im Sinne der Menschenrechtskonvention und im Sinne der humanistischen, europäischen Werte, mit denen wir erzogen wurden. Denn der Begriff Menschlichkeit ist leider vielschichtiger, als wir uns oft erinnern. In dieser Vielschichtigkeit aber lauert eine Gefahr für unseren Rechtsstaat und für unsere Demokratie: Denn leider sind auch Angst, Hass und Gewalt, wenn auch natürlich nicht im positiven Sinn, dennoch den Menschen nicht fremd, also menschlich.

Menschlichkeit im Sinne von privatem, tugendhaftem Handeln und verwaltungsbehördliches rechtsstaatliches Handeln stehen nur auf den ersten Blick in einem Widerspruch. Genauso selbstverständlich, wie Menschen auf ihrer Reise von Syrien nach Europa in Österreich de facto auf Nahrung, Kleidung und Schutz angewiesen sind, sind wir alle auf Regeln angewiesen, die eingehalten werden müssen, um Angst und Hass keine Chance zu geben. Diese Regeln müssen aber auch rechtsstaatlich und praxistauglich sein.

Krisengipfel

Die Europäische Union benötigt schon längst einen Ersatz für "Dublin", der von den Mitgliedstaaten auch vertragstreu eingehalten und vertragskonform angewendet werden kann. Nur so kann das Vertrauen der Bürger in den Rechtsstaat und die Lösungskompetenz der Union wiederhergestellt werden. Nur so kann den verzweifelten Kriegsflüchtlingen jenes rechtsstaatliche Ausmaß an Schutz und Hilfe geboten werden, das wir als selbstverständlich und menschlich erachten. Österreich hat nun die Chance, initiativ zu werden, voranzugehen, Europa wachzurütteln und einen EU-Krisengipfel einzuberufen. Wir brauchen ein europäisches Regelwerk, das Flüchtenden Schutz und Hilfe garantiert und zugleich jeden Mitgliedstaat in die Pflicht nimmt. Menschlichkeit und Reglementierung sind kein Widerspruch, sofern die Regeln menschlich sind!

Ich möchte abschließend zur Wachsamkeit aufrufen, auf dass eine schleichende Aufweichung des rechtsstaatlichen Prinzips gemäß Art 18 B-VG durch jene Willkür, die bei Anwendung des Unionsrechts mit der Kreditkrise 2009 begann und mit der anhaltenden Flüchtlingsthematik ihren traurigen Höhepunkt erreicht, nicht auf lange Sicht auf die behördliche Verwaltungspraxis in der rein innerstaatlichen österreichischen Rechtsordnung ausstrahlt.

Schutz und Hilfe

Dazu sind auch wir Rechtsanwälte angehalten. Wir wollen, dass Menschlichkeit so verstanden bleibt, wie wir sie heute verstehen, dass verzweifelte Kriegsflüchtlinge in unserer Gesellschaft willkommen geheißen werden sowie Schutz und Hilfe erfahren. Dazu bedarf es tauglicher Regeln, die es einzuhalten gilt und bei deren Einhaltung die österreichischen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte den Staat und seine Bürger sowie alle Menschen in Not und auf der Flucht unterstützen werden. (Rupert Wolff, 14.9.2015)