Die Wahl Jeremy Corbyns zum neuen Vorsitzenden der britischen Labour-Partei stellt eine Katastrophe dar: für die Partei, für das Land, für Europa. Die traditionell undogmatische Partei – man fühle sich mehr dem Methodismus als Marx verpflichtet, lautet ein bekanntes Bonmot – hat sich einem für viele Briten unwählbaren Linkspolitiker und EU-Skeptiker ausgeliefert.

Das liegt vor allem an einer mangelnden Analyse der Ursachen für die Niederlage bei der Unterhauswahl im vergangenen Mai. Die risikoscheuen Briten fanden den keineswegs überzeugenden Premier David Cameron glaubwürdiger als seinen Herausforderer Edward Miliband, die konservative Wirtschafts- und Finanzpolitik besser als Labours Angebot. Statt wie unter Tony Blair auch ambitionierten Aufsteigern eine Heimstatt zu bieten, positionierte sich die Arbeiterpartei ausschließlich als Sammelbewegung von sozial Schwachen und Angestellten im öffentlichen Dienst.

Linker Gesinnungsethiker

Dabei hatte Miliband immerhin Kabinettserfahrung. Der neue Vorsitzende Corbyn war in 32 Parlamentsjahren immer nur sein eigener Mann, ein linker Gesinnungsethiker par excellence. Mit ihm an der Spitze zieht sich die Partei noch weiter in die Kuschelecke zurück. Der 66-Jährige steht für Klassenkampf daheim und knallharten Antiamerikanismus in der Außenpolitik. Mit der harten Realität setzt man sich in seiner Tradition britischer Politik ungern auseinander. Labour hat zuletzt 1931 einen vergleichbaren Mann, den Pazifisten George Lansbury, zum Vorsitzenden gemacht.

In den deutschsprachigen Ländern wäre Corbyn wohl auf dem äußersten linken Flügel der Sozialdemokraten oder bei der Linken angesiedelt. Er legt Putins Ukraine-Politik der Nato zur Last und will einseitig nuklear abrüsten. Mitten im Aufschwung plant er staatliche Konjunkturprogramme, was selbst viele Keynesianer für gewagt halten. Jeden Gedanken an eine Verschlankung des Sozialstaats lehnt Corbyn ab, das Staatsdefizit hält er für unwichtig. Er redet gern und zu Recht über die Chancen, nie aber über die Probleme der Einwanderung. Er will die Privatisierung der Eisenbahn sowie der Versorgungsunternehmen für Strom, Gas und Wasser rückgängig machen. Von Kosten ist nie die Rede.

"Andere Art von Politik"

Fürsprecher des neuen Oppositionsführers loben dessen persönliche Integrität. Im innerparteilichen Wahlkampf setzte sich Corbyn "für eine andere Art von Politik" ein, für "klare Worte", für respektvollen Umgang mit dem politischen Gegner, was er auch tatsächlich bis zum Urnengang durchhielt. Demonstrativ ging der neue Labour-Boss gleich nach seiner Wahl auf eine Flüchtlingsdemo. Das allwöchentliche Kräftemessen mit dem Premier in dessen parlamentarischer Fragestunde will er gelegentlich delegieren. Sein Schattenkabinett werde alle Strömungen der Partei enthalten.

Corbyn redet gern von einer neuen "Bewegung", spricht selten von sich, viel lieber von "wir". Doch auf der Insel gilt genau wie anderswo: Es kommt auf den Vorsitzenden an. Dem Land würde eine glaubwürdige personelle Alternative zu Premier Cameron guttun, zumal dessen Regierung schon jetzt erste Anzeichen von Arroganz zeigt.

Wahlen werden aber auch in Großbritannien in der Mitte der Gesellschaft gewonnen. Im geltenden Mehrheitswahlrecht ist das umso mehr der Fall. Dieser Realität verweigert sich Labour. Das ist schlecht für die Partei und gefährlich für die Demokratie. (Sebastian Borger, 14.9.2015)