Vor dem Hintergrund des unaufhaltsamen Zerfalls des syrischen Staates und der dadurch ausgelösten dramatischen Flüchtlingssituation bedeutet die Gefahr eines Bürgerkrieges in der Türkei einen zusätzlichen Unsicherheitsfaktor, auch im Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Über den Seeweg nach Griechenland riskieren täglich tausende Menschen ihr Leben. Seit dem Aufstand gegen das Assad-Regime in Syrien 2011 zählt man vier Millionen Flüchtlinge, davon über zwei Millionen in der Türkei. Die Masse der Syrer flüchtet vor den Mörderbanden des sogenannten "Islamischen Staates" (IS) und Bombenangriffen Assads, der von Iran und Russland unterstützt wird. Die Verstärkung der militärischen Hilfe für den bedrängten Diktator durch Russland bestätigt den Eindruck von der hoffnungslosen Lage.

Angesichts der strategischen Position der Türkei prägt die Haltung der Regierung in Ankara sowohl das Schicksal der syrischen Flüchtlinge als auch die Möglichkeiten des Westens, den Flüchtlingsstrom einzudämmen und die Lage der Flüchtlinge vor Ort zu verbessern. Nach mehr als zwei Jahren des Waffenstillstands zwischen der 15 Millionen starken kurdischen Minderheit und der Regierung hat Präsident Recep Tayyip Erdogan den Friedensprozess für beendet erklärt und führt einen totalen Kampf gegen die politischen Vertreter der Kurden (vgl. Standard 14. 9. 2015).

Das erneute Ausgehverbot nur 36 Stunden nach der Aufhebung der international scharf kritisierten Ausgangssperre für die 120.000 Einwohner der Kurdenstadt Cizre, die Bombardierung der bis vor kurzem als sicher geltenden Kurdengebiete in Syrien durch die türkische Luftwaffe und das Anzünden der Parteibüros der legalen liberalen prokurdischen Partei HDP beweisen, dass Erdogan für die Zurückeroberung der absoluten Mehrheit sogar einen Bürgerkrieg riskiert. Die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK antwortet, wie in der Vergangenheit, mit Terroranschlägen auf die Offensive.

Experten des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR sehen im Klima der Angst und der Gewalt im Dreiländereck Türkei, Syrien und Irak, in der doppelten Bedrohung der Menschen durch den IS und im Krieg gegen die PKK den Grund für den deutlichen Anstieg der Zahlen der Flüchtlinge aus den Kurdengebieten und Grenzregionen zwischen Syrien und der Türkei.

Von Größenwahn, Machthunger und Selbstherrlichkeit getrieben, will Erdogan, der im Juni zum ersten Mal seit seinem Machtantritt vor 13 Jahren die absolute Mehrheit verlor, um jeden Preis die im Juni mit 13 Prozent ins Parlament gelangte HDP als der Terrororganisation PKK nahestehend diskreditieren. Nachdem ich im Oktober 2003 nach dem ersten fulminanten Wahlsieg seiner AKP-Partei bei einer internationalen Konferenz in Mallorca Erdogans Bekenntnis zur europäischen Mission der Türkei mit Zitaten von Bertolt Brecht und Victor Hugo gehört hatte, zählte auch ich einige Jahre zu jenen Beobachtern, die an Demokratisierung und wirtschaftlichen Aufschwung dieser "Insel der Stabilität im Mittelmeerraum" glaubten. Historiker werden genügend Stoff haben, die Wandlung eines Reformers zu einem Brandstifter zu beschreiben. (Paul Lendvai, 14.9.2015)