Ein Jahr ist um, und pünktlich wie die Eisenbahn bietet Apple im September sein neuestes Mobil-Betriebssystem iOS 9 für iPhone, iPad und iPod Touch an. Seit Mittwoch 19 Uhr, steht das neue System zum Download (einstellungen – Allgemein – Softwareaktualisierung) bereit. Über Im WebStandard-Test zeigen sich dabei erste Ermüdungserscheinungen bei der Funktionsvielfalt des neuen iOS-Updates. Denn große neue Features bleiben zumindest auf dem iPhone weitgehend aus. Auf dem iPad zeichnet sich hingegen ein anderes Bild, auf dem Tablet hat iOS 9 einige Schauwerte zu bieten.

iOS 9 als Vorbereitung für das iPad Pro

Wo bei iOS 8 noch die Verknüpfung von Mobil- und Desktopgeräten im Mittelpunkt stand, wurde bei iOS 9 das Hauptaugenmerk offenbar auf die Benutzererfahrung auf dem iPad gelegt. Wirklich verwundern sollte das nicht. Immerhin erscheint in wenigen Wochen mit dem iPad Pro eine neue Tablet-Gattung von Apple, deren Nutzer auch höhere Ansprüche an das Betriebssystem stellen werden. iOS 9 kommt diesen Nutzern nun entgegen und ermöglicht professionellere Workflows – auch auf iPad Air 2 und Co.

Die Multitasking-Funktionen von iOS 9 lassen sich auch kombinieren.
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Neue Multitasking-Funktionen für iPads

Allen voran sind dabei die neuen Multitasking-Funktionen von iOS 9 zu nennen. Sie führen zu den bisher größten Änderungen am Bedienkonzept der iPads. Über eine Wischgeste vom rechten Bildschirmrand kann eine App in einem schmalen Fenster über das gerade geöffnete Programm gelegt werden, das dann in den Hintergrund wandert und abgedunkelt wird. Slide-over nennt Apple diese Funktion. Über eine weitere Wischgeste können zwei Apps auch parallel angezeigt und verwendet werden – Split-View.

Apps können über andere Anwendungen gezogen werden.
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Splitscreen-Multitasking

Apple erlaubt mit Split-View unter iOS 9 erstmals echtes Splitscreen-Multitasking, wie man es bereits von Desktop-Geräten und den Tablets anderer Hersteller wie Microsoft und Samsung kennt. Einen Haken hat die Sache allerdings: Man benötigt auch die passende Hardware dafür. Split-View wird nur von den aktuellsten Geräten unterstützt, die über mindestens 2 GB Arbeitsspeicher verfügen – namentlich sind das iPad Air 2, iPad Mini 4 und das bald erscheinende iPad Pro.

Für den abgespeckten Slide-over-Modus, der geringere Anforderungen an die Hardware stellt, ist zumindest ein iPad Air oder ein iPad Mini 2 notwendig. Ältere iPad-Modelle, immerhin darf sogar das betagte iPad 2 das Update auf iOS 9 mitmachen, kommen gar nicht erst in den Genuss der neuen Multitasking-Funktionen. Das ist zwar ärgerlich, aber auch nachvollziehbar. Bereits unter iOS 8 pfiffen die älteren Modelle aus allen Löchern, Performance-Polster gibt es kaum noch.

Split-View erlaubt die Darstellung und Bedienung von zwei Apps gleichzeitig.
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Mühsames Interface

Bei unserem Test, der auf einem iPad Air 2 durchgeführt wurde, zeigen sich beim neuen Multitasking-Modus jedoch gewisse Interface-Schwächen. Denn das Menü, mit dem Apps für Slide-over ausgewählt werden, ist nur eine chronologische Auflistung der zuletzt "geslideten" Programme. Derzeit ist das Menü noch recht überschaubar, da nur wenige Apps für iOS 9 optimiert sind und die Updates erst in den nächsten Tagen und Wochen eintrudeln werden.

Sobald mehr Drittanbieter-Apps die neuen Funktionen unterstützen, wird die Liste aber deutlich wachsen und die Übersichtlichkeit über Bord gehen. Das Suchen und Öffnen einer speziellen App wird dann zweifelsohne zu einer mühsamen Angelegenheit, die mit viel Scrollen verbunden sein wird. Hier sollte sich Apple noch eine bessere Möglichkeit der Darstellung überlegen. Ansonsten laufen Slide-over und Split-View auf unserem Testgerät ohne Probleme – keine Ruckler, keine Abstürze.

Apps werden in der Übersicht einfach in einer langen Liste angezeigt. Eine Sortierung ist nicht möglich.
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Bild-in-Bild-Modus

Die dritte neue Multitasking-Funktion ist der Bild-in-Bild-Modus, der ebenfalls den neuesten iPad-Generationen vorbehalten bleibt. iOS 9 kann Videos in einem kleinen Fenster darstellen, dessen Größe und Position verändert werden können. Eine Partie des Blizzard-Kartenspiels "Hearthstone" spielen, während man parallel einen Film schaut? Kein Problem unter iOS 9. Drittanbieter-Apps wie Youtube und Netflix müssen aber erst für eine Unterstützung des neuen Bild-in-Bild-Modus sorgen.

Verbesserte Quicktype-Tastatur

Die letzte der großen iPad-spezifischen Neuerungen stellt die verbesserte Quicktype-Tastatur dar. Diese bietet neben den bereits von iOS 8 gewohnten Wortvorschlägen auch Shortcut-Knöpfe für Textformatierungen und Funktionen wie Kopieren, Ausschneiden und Einfügen. Außerdem fällt bei der Positionierung des Cursors die Fummelei mit der digitalen Lupe weg, da die Zeigerposition nun auch mittels Zwei-Finger-Wischgesten über dem Tastaturbereich verschoben werden kann.

Videos können in einem kleinen Fenster dargestellt werden.
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Shortcut-Unterstützung

Die neue Cursorpositonierung hat man recht schnell verinnerlicht, und man möchte sie nicht mehr missen. Etwas hakelig ist jedoch das Markieren von Text. Das funktioniert prinzipiell über dieselbe Geste, das Verschieben des Markierungsbereichs läuft aber nicht ganz sauber ab. Ebenfalls neu ist die Unterstützung von Shortcuts bei der Nutzung von externen Tastaturen. Auch hier dürfte Apple bereits Vorarbeit für das kommende iPad Pro leisten, das mit dem Smart-Keyboard eine externe Tastatur zur Seite gestellt bekommt.

Hält man auf einer externen Tastatur die cmd-Taste gedrückt, werden alle verfügbaren Shortcuts angezeigt.

Neuerungen für iPhone

Freilich bietet iOS 9 nicht nur Neuerungen für das iPad. Auch iPhone-Nutzer können sich über neue Funktionen freuen, diese fallen im Vergleich aber weit weniger bedeutend aus. Allen voran sind dabei zahlreiche Optimierungen in den verschiedenen Apple-eigenen Programmen zu nennen – darunter eine umfassende Neugestaltung der Notizen-App. Diese schaut sich in der neuen Version ein wenig von Veteranen wie Onenote und Evernote ab.

Erweiterung der Notizen-App

Bisher bot Apple in der Notizen-App nur sehr rudimentäre Funktionen an. In der neuen Version können nun Webseiten und Einträge von Apple Maps mit Vorschaubildern und -texten eingefügt werden, eine neue Funktion erlaubt Freihandzeichnungen mit verschiedenen digitalen Stiften und in verschiedenen Farben, die App bietet grundlegende Formatierungen für Texte, und das Einfügen von Kamerafotos und Bildern wurde vereinfacht.

Neu ist außerdem, dass die Notizen ab iOS 9 und OS X El Capitan über iCloud und nicht mehr über das IMAP-Protokoll synchronisiert werden. Trotz der Verbesserungen bleibt die neue Notizen-App aber hinter den oben genannten Branchenstandards zurück – sich auf eine Ebene mit Onenote und Evernote zu stellen wird aber auch kaum das Ziel von Apple gewesen sein. Kurzum, das neue Programm stellt eine gelungene Erweiterung der bisherigen Notizen-App dar.

iCloud wird erwachsen

Nachdem Apple bereits auf dem Mac unter der Bezeichnung "iCloud Drive" Dateizugriff auf seinen Onlinespeicher bietet, erhält auch iOS 9 eine eigene iCloud-Drive-App. Diese ermöglicht, ähnlich wie bei anderen Cloud-Anbietern, eine Verwaltung der in iCloud abgelegten Daten über eine eigene App. iCloud Drive muss aber erst über eine etwas versteckte Option in den Einstellungen von iOS aktiviert werden. Warum Apple die neue App nicht standardmäßig auf dem Homescreen anzeigt, ist unklar.

iCloud ist in iOS 9 außerdem besser in das Betriebssystem integriert. Im neuen Mail-Programm können einer E-Mail-Nachricht etwa direkt Dateianhänge aus der iCloud (oder anderen Onlinespeichern) hinzugefügt werden. Zudem hat Apple kürzlich eine Preisreduktion bei der iCloud angekündigt. Zwar sind weiterhin nur 5 GB Speicherplatz kostenlos, die Preise für Zusatzspeicher werden jedoch teilweise mehr als halbiert und damit deutlich konkurrenzfähiger.

Mit iCloud Drive können nun ähnlich wie bei Dropbox und Onedrive Dateien verwaltet werden.
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iOS 9 wird intelligenter und proaktiv

Die letzten großen Änderungen für iOS 9 betreffen Siri. Apple stattet seine Sprachassistentin mit weiteren Fähigkeiten aus und macht das ganze System schlauer. iOS 9 soll Funktionen vorschlagen, noch bevor der Nutzer danach fragt. Als Beispiele nennt Apple die Wiedergabe der Lieblings-Playlist auf der Fahrt nach Hause oder die automatische Erstellung von Kalendereinträgen und Kontakten, wenn entsprechende E-Mails eingehen. Wirklich gezeigt haben sich diese Funktionen in unserem Test aber noch nicht.

Spotlight lernt Rechnen

Die Spotlight-Suche wurde ebenfalls aufgewertet und bietet nun einen ähnlichen Funktionsumfang, wie man ihn von OS X kennt. Die Suchfunktion kann künftig also auch unter iOS Berechnungen vornehmen, Einheiten und Währungen umrechnen, das Wetter anzeigen, aktuelle Aktienkurse abfragen und mehr. Etwas verwirrend ist dabei die Benutzeroberfläche. Denn die Spotlight-Suche ist unter iOS 9 gleich doppelt vertreten.

Die Spotlight-Suche beherrscht ein paar neue Tricks.
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Neues Spotlight-Menü

Wie gewohnt kann Spotlight über eine Wischgeste nach unten von jedem Homescreen aus aufgerufen werden. Zusätzlich gibt es links neben der ersten Homescreen-Seite, ähnlich wie in früheren iOS-Versionen, einen eigenen Bereich. Dieser beherbergt neben der Spotlight-Suche auch Siri-Vorschläge für häufig verwendete Kontakte und Apps. Im unteren Bereich werden außerdem eine Handvoll Nachrichtenmeldungen angezeigt.

Diese Nachrichten werden, vermutlich aus Privatsphäregründen, nur auf Basis der Ortsdaten ausgewählt und verlinken auf die Webseiten der Zeitungen. Dadurch ist jedoch auch der Personalisierungsgrad eher gering. Mit anderen Worten: Es werden zwar prinzipiell relevante Nachrichten angezeigt, auf die Interessen der Nutzer nimmt Apple bei der News-Auswahl aber keine Rücksicht. Im direkten Vergleich bietet Google Now eine deutlich stärker auf den Nutzer zugeschnittene Nachrichtenauswahl.

Siri schlägt in iOS 9 Nachrichten vor, personalisieren lässt sich die Auswahl aber nicht.
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Optimierung der Akkulaufzeit

Manche Neuerungen von iOS 9 spielen sich aber auch unter der Haube ab. So verspricht Apple auf dem iPhone eine um bis zu eine Stunde längere Akkulaufzeit. In unseren bisherigen Tests auf dem iPhone 6 konnten wir bei durchschnittlicher Nutzung aber keine spürbar längeren Laufzeiten feststellen. Zur Prüfung von Apples Versprechen werden noch intensivere Akkutests notwendig sein. Die noch unter den früheren Betaversionen vorhandenen Akkuprobleme, bei denen die Prozentpunkte regelrecht nach unten purzelten, hat Apple auf jeden Fall in den Griff bekommen.

Energiesparmodus

Neu auf dem iPhone ist außerdem ein Energiesparmodus, der bei geringem Akkustand wahlweise automatisch eingeschaltet werden kann. In diesem Modus deaktiviert Apple auf dem iPhone verschiedene Funktionen wie E-Mail-Abruf, Hintergrundaktualisierungen, LTE-Datenverbindungen und Ortungsdienste. Auch die Gesamtleistung des System wird heruntergefahren, die Bildschirmhelligkeit reduziert und Animationen deaktiviert. Bis zu drei Stunden zusätzliche Laufzeit werden so aus dem Akku gequetscht.

Das war's?

Das waren also die großen neuen Funktionen von iOS 9? Ja und nein zugleich. Denn in Europa und vor allem auf kleineren Märkten wie Österreich sind manche Funktionen von iOS 9 gar nicht erst verfügbar. So gibt es eine nagelneue News-App, die von Redakteuren betreut wird und Nachrichten Smartphone- und Tablet-freundlich aufbereitet. Sie ersetzt den von vielen Nutzern gehassten Zeitungskiosk. Vorerst kommen aber nur englischsprachige Länder in den Genuss des neuen Angebots.

Apple News & Apple Maps

Die App lässt sich über eine Änderung der Spracheinstellungen zwar auch hierzulande aktivieren, in Apple News werden zum jetzigen Zeitpunkt aber nur englischsprachige Medien angeboten. Der Nutzen hält sich also noch in Grenzen. In der Karten-App bietet Apple in iOS 9 außerdem eine neue Ansicht für den öffentlichen Nahverkehr, über den auch Routenberechnungen möglich sind. Berlin wird offenbar aber die einzige Stadt im deutschen Sprachraum sein, in der diese Funktion zum Start unterstützt wird.

In Berlin werden öffentliche Verkehrsmittel angezeigt, in Wien fehlen diese Daten noch.
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Nutzer zweiter Klasse

Damit drängt sich einem als Österreicher langsam, aber doch das Gefühl auf, bei Apple zum Nutzer zweiter Klasse degradiert zu werden. Keine Apple Stores, kein Apple Pay, keine Apple Watch, kein Apple News, kein öffentlicher Nahverkehr in Apple Maps – die Liste an nicht verfügbaren Angeboten und Diensten hierzulande wird immer länger statt kürzer. Es wäre an der Zeit, nicht immer mehr neue Angebote zu schaffen, sondern auch an einer flotteren Expansion der bestehenden Dienste zu arbeiten.

Fazit

Ein abschließendes Fazit zu iOS 9 fällt schwer. Während man sich auf dem iPhone mit eher wenigen neuen Funktionen begnügen muss, wartet das iPad unter dem neuen Betriebssystem mit den größten Änderungen seit der Vorstellung des Tablets auf. Vor allem aktuelle iPad-Modelle wie das iPad Air 2 und das iPad Mini 4 profitieren durch die anstehende Veröffentlichung des iPad Pro von vielen Funktionen, die auch auf den kleineren Tablets das produktive Arbeiten verbessern.

Lohnt sich iOS 9 auf dem iPhone also gar nicht? Doch. Letztendlich bietet Apple sein Betriebssystem wie üblich zum Gratisdownload an. Auch Nutzer von iPhones werden von dem aktuelleren System profitieren, das neben den im Test genannten Neuerungen auch viele kleinere Optimierungen und Sicherheitsverbesserungen umsetzt. Eilig muss man es mit dem Update aber nicht haben.

Lediglich Nutzer von älteren Geräten wie dem iPhone 4s und dem iPad 2 sollten überlegen, ob die Änderungen in iOS 9 eine etwas stockendere und langsamere Bedienung rechtfertigen. Die betagten Geräte arbeiten offensichtlich an ihren Leistungsgrenzen und laufen im Vergleich zu iOS 8 ein wenig langsamer. (Martin Wendel, 15.9.2015)