2012 wurden aufmunternde Leuchtzeichen an der Seouler Mapo-Brücke installiert. Trotzdem haben dort die Suizidversuche um das Sechsfache zugenommen.

Foto: Kretschmer

Kim Chi-yells Sprintrekord liegt bei stolzen 13 Sekunden, doch an jenem Vormittag im April legte er die hundert Meter vermutlich noch schneller zurück. An der Mapo-Brücke in Seoul entdeckte der Polizist einen Studenten am Brückengitter, und hätte er den jungen Mann nicht gerade noch so an den Knöcheln erwischt, wäre dieser wohl heute nicht mehr am Leben. Über 50 junge Menschen hat Kim auf diese Weise bereits vor dem Tod bewahrt. Seit seine Geschichte durch die Tageszeitungen kursiert, wird der Polizeioffizier als Volksheld gefeiert – und tatsächlich hat das Land Helden wie Kim Chi-yell bitter nötig. Seit elf Jahren in Folge führt Südkorea die Suizidstatistik der OECD-Länder an, und zwar mit weitem Abstand. 29,1 von 100.000 Koreanern nehmen sich im Schnitt das Leben, fast 40 Suizide sind das pro Tag.

Wie ein dunkler Schleier legen sich die Suizide über die Hauptstadt, sichtbar auch für seine Bewohner: Längst sind die Apartmentdächer per Gesetz zugesperrt und die U-Bahngleise mit Glastüren abgesichert. Immer wieder zieht es die Lebensmüden auf die Brücken am Han-Fluss: Über 700 Leute, die wenigsten von ihnen lebend, fischt das örtliche Schnellboot der Polizei jedes Jahr aus den Gewässern.

Aufmunternde Leuchtzeichen

Besonders die zwei Kilometer lange Mapo-Brücke gilt als Zentrum der Selbstmorde. Im September 2012 nahm sich daher Cheil, ein Marketingkonzern der Samsung-Gruppe, des Problems an und entwarf gemeinsam mit der Stadtregierung ein Restaurierungskonzept namens "Brücke des Lebens": Aufmunternde Leuchtzeichen versehen seitdem die Brücke, die jeweils aufblinken, sobald sie nachts Fußgänger registrieren. "Das Beste kommt noch!", "Wie willst du als Vater in Erinnerung bleiben?" oder "Wieso gehen wir nicht in die Karaokebar, um den Stress abzubauen?" steht auf den Brückengittern geschrieben. Viel Lob hat die Stadtregierung dafür bekommen, die Werber gar einen Award in Cannes. Nun jedoch, genau drei Jahre später, folgt der Schock: Die Suizidversuche auf der Mapo-Brücke haben um das Sechsfache zugenommen. Diesen Monat wird die Fassade der Brücke nun abgerissen.

"Die Kampagne ist ein typisches Beispiel dafür, wie fehlgeleitet die Autoritäten das Selbstmordproblem angehen", schrieb Kim Young-ha bereits vor einem Jahr in der New York Times. Als der südkoreanische Autor 1996 seinen Roman "Der Sterbehelfer" publizierte, galt er in seinem Heimatland als Vorreiter, der sich des Themas annahm. Kein Wunder: Noch bis weit in die 1980er-Jahre hatte Südkorea eine ausgesprochen niedrige Suizidrate.

Fanatischer Leistungsdruck in Südkorea

Dann folgte 1997 die Asienkrise und die Arbeitslosenquote schnellte quasi über Nacht von zwei auf knapp sieben Prozent. Die Gesellschaft reagierte darauf mit fanatischem Leistungsdruck, der sich vor allem auch auf das ultrakompetitive Bildungssystem auswirkte. Seit jenen Jahren hat sich auch die Selbstmordrate vervielfacht – und noch immer hat der Staat dem Problem wenig entgegenzusetzen außer Überwachungskameras, Absperrgittern und aufmunternden Leuchtzeichen.

Nach Angaben des Bildungsministeriums bedarf bereits mindestens einer von zehn Schülern einer psychologischen Behandlung. Genau davor scheuen sich jedoch gerade die jungen Koreaner – und aus gutem Grund: Psychische Krankheiten sind gesellschaftlich noch immer stigmatisiert. Regelmäßig fragen Arbeitgeber bei Ärzten nach Patientenakten nach, große Firmen führen bei Bewerbungsverfahren oft "Gesundheitstests" durch, die auf Antidepressiva und Schlaftabletten testen.

Die Betreiber der Mapo-Brücke haben unterdessen angekündigt, wie sie in Zukunft gegen das Suizidproblem vorgehen wollen: Bis zum Ende des Jahres sollen höhere Absperrgitter installiert werden. (Fabian Kretschmer aus Seoul, 16.9.2015)