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Hermann F. Mark war mehr als nur ein Pionier der Hochpolymerforschung: Der Chemiker machte sich auch als Soldat, Sportler, Lehrer, Lawinenexperte, Firmengründer und Kommunikator verdient.

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Chemiker Nuno Maulide lobt Marks Wirken als Vermittler.

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Wien – "Alles Leben ist Chemie". Warum dieser Satz vielen nicht mehr ganz jungen Österreichern besonders vertraut klingt, hat auch mit Hermann F. Mark zu tun. Der weltberühmte Chemiker war 1978 Präsentator einer zehnteiligen ORF-Fernsehreihe unter eben diesem Titel – zu einer Zeit, als man im staatlichen TV noch etwas mehr Wert auf die Erfüllung des wissenschaftlichen Bildungsauftrags legte als heute.

Mark war damals bereits 83 Jahre alt und lebte schon seit fast vier Jahrzehnten in den USA, wohin er nach dem "Anschluss" im März 1938 unter dramatischen Umständen geflüchtet war. Den Kontakt zu seiner Geburtsstadt Wien hat Mark aber nie aufgegeben. Und obwohl er aus Wien vertrieben wurde, hier kaum ein Drittel seines Lebens verbrachte und 1992 in Texas starb, wurde seine Urne am Matzleinsdorfer Friedhof in Wien beigesetzt.

Geboren wurde Hermann Mark 1895 als Sohn eines prominenten Chirurgen, der vom Judentum zum Protestantismus konvertiert war. Sigmund Freud gehörte ebenso zu den Bekannten der Familie wie Arthur Schnitzer oder Theodor Herzl. Schon als hochbegabter Teenager hatte Hermann Mark vielfältige Interessen: Mit zwölf Jahren besuchte er erstmals naturwissenschaftliche Vorlesungen an der Uni Wien, schwärmte für die Musik Gustav Mahlers und war zudem exzellenter Sportler, kurz sogar Mitglied der Fußballnationalmannschaft.

Höchstdekorierter Soldat

Dann kam der Erste Weltkrieg; Mark diente viereinhalb Jahre bei den Kaiserjägern, ab 1916 gehörte ein gewisser Engelbert Dollfuß Marks Regiment als Maschinengewehrspezialist an. Mark wurde drei Mal verwundet, erhielt 14 Tapferkeitsmedaillen und war angeblich der meist ausgezeichnete Truppenoffizier Österreichs.

Trotz Kriegsgefangenschaft bis Oktober 1919 promovierte der tapfere Soldat bereits 1921 an der Uni Wien in Chemie, natürlich summa cum laude. Unmittelbar danach ging er aber nach Deutschland. Eine steile Karriere zwischen Universität, außeruniversitärer Forschung und Industrie begann, Mark war sowohl in der Chemie wie auch in der Physik an vorderster Front tätig: In Berlin konnte er als Kristallografieexperte mittels Röntgenbeugung die langkettige Molekülstruktur von Textilfasern aufklären, die zu den sogenannten Polymeren gehören.

1926 wechselte zu in die Industrie zu I.G. Farben, dem damals größten Chemiekonzern der Welt, und half sowohl in Theorie wie auch Praxis mit, dass die Firma zu einem der führenden Hersteller der ersten Kunststoffe wurde, die ebenfalls zu den Hochpolymeren zählen. In Deutschland gehörte der spätere Chemie-Nobelpreisträger Linus Pauling ebenso zu Marks Schülern wie der Physiker Edward Teller, der spätere "Vater der Wasserstoffbombe".

Angesichts des unaufhaltsamen Aufstiegs der Nationalsozialisten und seiner "halbjüdischen" Herkunft übersiedelte Mark im Herbst 1932 nach Wien, wo die Professur für physikalische Chemie frei geworden war. Die meisten Professoren der Philosophischen Fakultät wollten damals einen Arier, der politisch nicht links stehen durfte. In einem Brief anlässlich des Berufungsverfahrens gab ein (antisemitischer) Professor der Uni Wien immerhin auch Folgendes zu bedenken: "Bei den vielfältigen Beziehungen gerade in der Chemie zum Judentum erwartet niemand von vornherein von einem Vertreter dieses Faches, dass er alle Juden, mit denen er notwendigerweise zu tun hat, sofort umbringt."

Totenwache an Dollfuß’ Sarg

Dass ausgerechnet der "Halbjude" Mark berufen wurde, hatte wohl auch damit zu tun, dass Ernst Späth, der damals mächtige Mann in der Chemie, kein ausgesprochener Antisemit war. Womöglich spielten aber auch Marks politische Beziehungen mit eine Rolle: Sein ehemaliger Untergebener Engelbert Dollfuß wollte Mark 1933 sogar als Handelsminister haben. Der frisch gebackene Ordinarius begnügte sich indes damit, das Ministerium in Sachen Holznutzung zu beraten und war zudem Mitglied des Erziehungsausschusses. Und als Dollfuß im Juli 1934 ermordet wurde, hielt Mark am Sarg seines Kriegskameraden Totenwache.

Trotz der politischen und wirtschaftlichen Katastrophen dieser Jahre gelang es dem Chemiker, sein Institut binnen kürzester Zeit zu einem Weltzentrum der neuen Hochpolymerforschung auszubauen, wie Nuno Maulide, aus Portugal stammender Chemie-Jungstar an der Uni Wien, würdigt: "Mark leistete in Wien entscheidende Beiträge, die Polymerchemie als eigene Subdisziplin des Faches zu etablieren. Und auch bei der Kommerzialisierung der Polymere spielte er eine entscheidende Rolle."

Dabei halfen ihm die nach wie vor guten Beziehungen zu I.G. Farben, die einen Teil seiner Mitarbeiter finanzierten. "Viele dieser jungen Forscher hätten aufgrund ihrer jüdischen Herkunft keine Chance auf eine Anstellung an der Universität Wien gehabt", sagt Johannes Feichtinger, Wissenschaftshistoriker an der ÖAW, der über Mark und dessen hochproduktives Wiener Team geforscht hat, dem unter anderem der spätere Chemie-Nobelpreisträger Max F. Perutz angehörte.

Chemiker der Hochpolymere

Mark und seine jungen Kollegen verfassten in den nicht einmal sechs Jahren bis zum "Anschluss" sieben Bücher und Dutzende wegweisende Fachartikel vor allem zur Chemie der Hochpolymere und Makromoleküle. Doch selbst das genügte dem leidenschaftlichen Bergfex Mark nicht, der Hobby und Wissenschaft verband, indem er wichtige Arbeiten zur Lawinenkunde verfasste.

Als nach dem Juliabkommen des Jahres 1936 zwischen dem österreichischen Kanzler Kurt Schuschnigg und Adolf Hitler langsam absehbar wurde, dass nun auch in Österreich Gefahr drohte, organisierte Mark die Ausreise von rund 20 seiner Mitarbeiter in alle Welt. Damit war eine der erfolgreichsten Forschergruppen der Uni Wien für immer zerschlagen, denn nur die wenigsten Schüler Marks kehrten nach 1945 zurück nach Wien.

Er selbst wartete mit der Ausreise im Frühjahr 1938 beinahe zu lange: Unmittelbar nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde er als "Dollfuß-Freund" verhaftet, sein Reisepass wurde eingezogen und konnte von Mark erst gegen teure Bestechung eines befreundeten Rechtsanwalts wiedererlangt werden.

Hermann Mark hatte aber längst selbst auch damit gerechnet, Österreich verlassen zu müssen, und als Wissenschafter ließ er sich einen besonderen Trick einfallen, um sein Vermögen an den Nationalsozialisten vorbei ins Ausland zu schaffen: Er kaufte in den Monaten vor dem "Anschluss" 1,1 Kilogramm Platindraht und verbog ihn zu unauffälligen Metallkleiderbügeln.

Mit dieser wertvollen Fracht und Skiern am Auto flüchtete er mit seiner Familie unter abenteuerlichen Umständen über die Grenze in die Schweiz, nach Frankreich und England. Dann ging es mit einem Schiff weiter nach Kanada und in die USA. 1940 trat er ins Polytechnic Institute in New York ein, wo er sich auch um die US-Kriegswirtschaft verdient machte, sagt Johannes Feichtinger: "Mark hat den USA nach dem Verlust des Zugangs zu Naturkautschuk der synthetischen Kautschukproduktion den Weg geebnet."

Pionier der Popularisierung

Nach dem Krieg wurde Mark in den USA endgültig zu einem der führenden Pioniere der Erforschung und Kommerzialisierung von Kunststoffen, wovon rund 600 Fachartikel, 40 Bücher, rund 20 Ehrendoktorate und zahlreiche andere Auszeichnungen zeugen.

Zum Glück für Österreich blieb Mark mit seiner Heimat weiter in Kontakt: Er war Gastprofessor an der Universität Wien und auch maßgeblich am Aufbau einer Reihe heimischer Industrieunternehmen beteiligt. Schließlich wurde Mark mit "Alles Leben ist Chemie" auch noch zu einem Pionier der Wissenschaftsvermittlung. Solche Aktivitäten hält Nuno Maulide, selbst ein engagierter Popularisator, heute für besonders wichtig. "Es war wohl typisch für Mark, auch bei der Kommunikation von Wissenschaft ein Pionier gewesen zu sein." (Klaus Taschwer, 19.9.2015)