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Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon ist sichtlich stolz auf Schottland – nicht nur politisch, sondern auch als Markenzeichen.

Foto: Reuters / Russell Cheyne

Edinburgh/London – Wäre Schottland heute unabhängig, hat Professor Ronald MacDonald von der Uni Glasgow errechnet, müsste sich die Regionalregierung in Edinburgh unter Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon mit einem Defizit von rund zehn Prozent herumschlagen. Das liegt am niedrigen Ölpreis. Im Vorfeld des Referendums, das an diesem Freitag ein Jahr zurückliegt, setzten die Nationalisten und ihre Partei SNP (Scottish National Party) stark auf das "schwarze Gold", versprachen den Schotten eine rosige Zukunft. Seither hat sich der Ölpreis halbiert, alle Vorhersagen der SNP-Ökonomen sind passé. Doch statt der Glaubwürdigkeit der Nationalisten liegt die Unionisten-Bewegung in Trümmern. Zum Jahrestag redet Sturgeon selbstbewusst von der nächsten Abstimmung, unter einer Bedingung: "Dann will ich sicher sein, dass wir gewinnen."

Wirtschafts- und finanzpolitische Argumente waren Umfragen zufolge ausschlaggebend dafür, dass am 18. September letzten Jahres die Abstimmung aus Nationalistensicht mit 55,3 Prozent verloren wurde. Ein Jahr danach boomt mit der britischen Wirtschaft auch die Nordregion. Exporte in der verarbeitenden Industrie sind um 2,7 Prozent gestiegen, Einnahmen durch ausländische Touristen lagen sogar um 13 Prozent höher. Professor MacDonald weiß das aus eigener Erfahrung, betreibt er doch im Nebenberuf ein Fotogeschäft auf der malerischen Insel Skye. Er habe "das bisher beste Jahr" seines Ladens erlebt, berichtete der Ökonom dem Magazin Economist. Selbst in Aberdeen, der Ölhauptstadt Europas, halten sich die Auswirkungen des Preisverfalls in Grenzen.

Beliebte Regierungschefin

Auch die Politik sorgt für Überraschungen. Die Nationalisten würden sich zerfleischen, glaubten viele Beobachter der Edinburgher Szene. Von wegen: Am Tag nach der Niederlage trat Alex Salmond, 60, zugunsten seiner Stellvertreterin Sturgeon, 45, vom Amt des Ministerpräsidenten zurück. Mit der konzilianteren Frau an der Spitze machte die SNP Furore, vervierfachte ihre Mitgliederzahl und gewann bei der Unterhauswahl im Mai 50 Prozent der Stimmen. Heute verbucht die Regierungschefin in Beliebtheitsumfragen eine Nettozustimmung von 33 Prozent: So groß ist der Abstand zwischen jenen, die Sturgeon gut finden, und ihren Kritikern. Zum Vergleich: Labour-Oppositionsführerin Kezia Dugdale kommt auf einen Negativwert von minus 15.

Im Unionistenlager hingegen herrscht Friedhofsstimmung. Dass führende SNP-Leute 2014 davon sprachen, das Thema Unabhängigkeit sei mit der Abstimmung "für eine Generation", also mindestens 20 Jahre, vom Tisch – wen kümmert's? Viele Politiker der erfolgreichen Nein-Kampagne erwarten bald eine neue Abstimmung.

David Cameron setzt von London aus auf eine Umarmungstaktik. Mit dem neuen Schottlandgesetz habe man dem Norden "alles zugestanden, was wir versprochen hatten". Dazu gehört weitgehende Autonomie bei der Einkommensteuer sowie bei Sozialleistungen, etwa für Behinderte und deren Pflegepersonal. Schon bisher genießen Schotten, anders als Engländer und Waliser, kostenlose Pflege im Alter sowie gebührenfreie Rezepte. Auch die Hälfte der in Schottland einbehaltenen landesweiten Mehrwertsteuer von 20 Prozent verbleibt in Edinburgh. Berechnungen der Uni Sterling zufolge werden statt bisher etwa zehn zukünftig rund 50 Prozent der schottischen Regierungsausgaben vor Ort erhoben.

Den Nationalisten ist das längst nicht genug, vielen Schotten auch nicht. Erstmals ergaben jetzt einzelne Umfragen Mehrheiten von etwa 52 Prozent für die Loslösung von London. Zwar gebe es dabei erhebliche Fehlerquoten, weiß der deutsche Soziologe Jan Eichhorn von der Uni Edinburgh. Was aber auf jeden Fall stimme, seien die Konsolidierung der Unabhängigkeitsbefürworter und der Höhenflug der SNP. Deren triumphalen Sieg bei der Landtagswahl im kommenden Jahr können laut Eichhorn nur selbstgemachte Fehler verhindern: "Die Nationalisten müssen vorsichtig sein, dass sie nicht übermütig werden." (Sebastian Borger, 17.9.2015)