Noch sechzig Sekunden, um sich auf dem Brett auszurichten, Kinn hoch, Tiefenmuskulatur anspannen, und schon nähert sich ein gleichmäßiges Rauschen. Wer jetzt nicht paddelt, hat die perfekte Welle verpasst.

Das ist aber nicht weiter tragisch, in sechzig Sekunden kommt die nächste. "Surfen ohne Schürfwunden" nennt ein Küstenbewohner die künstlich erzeugte Welle im Landesinneren bei Dolgarrog abschätzig.

Surfen ohne Schürfwunden

Er ist verwundert, weshalb man zwölf Meilen von der Küste entfernt eine Anlage gebaut hat. "Surf Snowdonia" kommt ohne Sand und Salzwasser aus und gibt an, tatsächlich perfekte Wellen zu erzeugen, für Anfänger und Profis.

Zwölf Jahre lang haben spanische Ingenieure an diesen Wellen getüftelt, bis im August Surf Snowdonia die ersten Wellenreiter empfangen konnte. Inzwischen sei die Anlage ein voller Erfolg, im ersten Monat sei man völlig ausgebucht gewesen.

Eine künstlich erzeugte Welle im Landesinneren ermöglicht bei fast jedem Wetter Wellenreiten ohne Sand und Salzwasser.
Foto: Nick Humphrey/Surf Snowdonia

Ein weiterer Vorteil gegenüber den rauen Wellen an der Küste: Man kann eine Trainingssituation unter denselben Bedingungen immer wieder nachstellen, wenn man sich mit dem Brett an demselben Punkt positioniert. Macht man Fortschritte, paddelt man einfach an eine andere Stelle der 150 Meter langen Welle. Am Himmel über der Surfanlage hängen dichte Wolken, zwischenzeitlich nieselt es. Snowdonia ist einer der regenreichsten Orte Großbritanniens. Doch das Wetter und die Jahreszeit scheint den Surfern in ihren Neoprenanzügen völlig egal zu sein.

Wie ein Sechsjähriger Trampolinspringen

Den Besuchern von "Bounce Below", einer Trampolinanlage im ehemaligen Schieferbergwerk von Llechwedd, kann das Wetter egal sein. Sie begeben sich in die Tiefe einer 176 Jahre alten Höhle, um auf riesigen Netzen wie aufgestachelte Flöhe hin und her zu springen, bis ihnen die Luft ausgeht und sie sich über dem Abgrund bäuchlings in die Seile fallen lassen. Dabei verhalten sich Sechzigjährige wie Sechsjährige – das Wieder-Kind-Sein ist der eigentliche Spaß daran.

Unterhalb der Netzte zischt im Minutentakt jemand am Drahtseil vorbei und klickt sich an der Felswand mit einem speziellen Karabiner in die Sicherung, bevor er sich zur nächsten Seilrutsche hangelt. Zip World Caverns nennt sich das zweite von drei Abenteuerangeboten auf dem Areal. Bei Zip World Titan, einer dreiteiligen Seilrutsche aus fast zwei Kilometern Draht, soll man mit bis zu 120 Stundenkilometern das Gefühl vom Fliegen nachempfinden können.

Europas längste Seilrutsche in Wales – die Zip Line Titan.
Foto: derstandard.at/von usslar

Ein in den Overall eingenähter Sessel wird wie eine Schaukel in das Seil gehakt, bei "drei" öffnet sich ein Gattertor, und eine Gruppe aus jeweils vier Teilnehmern rauscht die moosigen Hänge des Snowdonia-Nationalparks hinunter. Wolkenschatten jagen über die Rücken von bauschigen Schafen, ab und zu ragt eine Schieferzahnreihe aus dem Boden, der Wind pfeift einem um die Ohren. Eine Gruppe Mountainbiker radelt auf Serpentinen ins Tal.

Bei jedem Abschnitt in die Tiefe warnt eine Tafel vor schweren Verletzungen bis hin zum Tod bei falscher Benützung. Wer keine Höhenangst bekämpfen muss, wird vielleicht sogar die Aussicht genießen: Ein Panoramaschwenk geht sich gerade aus, bevor man auf der nächsten Plattform eintrudelt, gebremst von Gummirollen und Drahtspiralen.

Abenteuer-Boom

Mit noch mehr Adrenalin wirbt die Zip World Velocity, mit 160 Kilometer pro Stunde die schnellste Seilrutsche der Welt. Sie liegt 40 Kilometer nordwestlich von Llechwedd und wird wie die anderen Zip-Lines in der Region von Sean Taylor betrieben. Der Waliser hat als Erster in der Region die Nachfrage nach adrenalinfördernden Anlagen dieser Art erkannt und mit einem Hochseilgarten im Snowdonia-Nationalpark begonnen.

"Mittlerweile wissen die Leute, dass man in Wales derlei Abenteuer findet, seither gab es eine Kettenreaktion für solche Angebote", sagt Johara Sykes-Davies, die in der Geschäftsentwicklung für Taylor arbeitet. Seit Velocity vor drei Jahren eröffnete, sei man im Sommer von morgens bis abends ausgebucht.

Wales gilt wegen seiner grünen Hügellandschaften auch als kleine Schwester von Neuseeland.
Foto: dertandard.at/von Usslar

Das spüre auch die lokale Wirtschaft, allein Zip World bietet 200 Arbeitsplätze, bei Surf Snowdonia sind es 150. Die Region verdient umgerechnet knapp 700 Millionen Euro mit Outdoor-Tourismus.

Einst galt Schiefer- neben Steinkohleabbau als wichtigster Industriezweig, die Gegend florierte während der Industrialisierung. Heute werden in Llechwedd zwar immer noch Dachschindeln hergestellt, allerdings ist daran nur noch ein Tausendstel der Arbeiter aus der Blütezeit beteiligt. Viele junge Leute freuen sich allerdings über die neuen Jobchancen im Outdoor-Bereich.

Der 25-jährige Jordan Smith etwa ist am nördlichsten Zipfel von Wales in Holyhead aufgewachsen und hätte nie gedacht, dass er einmal zurückkehren würde. Inzwischen trainiert er neun Monate im Jahr arabische Rekruten in der Wüste von Dubai, in den Sommermonaten schupft er Touristen von den walisischen Klippen ins Meer.

Zum Mut gezwungen

Das Kraxeln auf den Steilhängen der Küste von Anglesey und die anschließenden Sprünge ins 14 Grad kalte Wasser nennt man hier Coasteering. Ein Neoprenanzug hält den Körper warm und schützt vor Schürfwunden durch die scharfkantigen Seepocken, die den Kletterpfad pflastern. Zusätzlich trägt man Helm und Schwimmweste. Jordan deutet vor jedem Sprung, ob aus 15 oder fünf Metern, mit dem Finger auf die anzupeilende Stelle im Meer, um zu vermeiden, dass sich jemand den Kopf anhaut. Wer als Angeber auffällt, wird auch einmal einfach rückwärts von ihm hinuntergestoßen (siehe Video).

Foto: privat

"Beim Coasteering hat man viele Gelegenheiten, über sich hinauszuwachsen", sagt Jordan. Er hat es auf Norah abgesehen, eine Teilnehmerin, die mit solchen Abenteuern wenig anzufangen wusste und nun von Jordan auf jeden noch so heiklen Felsvorsprung getrieben wird. "Ich wusste, dass ich letztendlich den Mumm habe zu springen, aber es ist gut, dass mich jemand dazu zwingt", sagt sie glücklich und selbstbewusst und schält sich aus dem Neoprenanzug.

Llanfairpwllgwyngyllgogerychwyrndrobwllllantysiliogogogoch

Ebbe und Flut und die Windrichtung bestimmen beim Coasteering den Verlauf der Route. Dabei kann man die walisische Natur, die viele nicht nur wegen des saftigen Grüns an Neuseeland erinnert, nicht nur bewundern, sondern muss sich intensiv mit ihr befassen.

Das Sattgrün der Landschaft komme nicht von ungefähr, scherzt der Tourguide und spielt auf die hohen Niederschlagswerte der Region an. Mit Sonnenbädern seien kaum Touristen nach Wales zu locken, sehr wohl aber mit nassen Abenteuern wie diesem oder mit lustigen Ortstafeln. Der Ort mit dem längsten amtlich anerkannten Namen der Welt ist wohl das bekannteste Fotomotiv von Nordwales, er wird aus guten Gründen Llanfairpwllgwyngyll abgekürzt und liegt im Süden der Insel Anglesey. Hier ein Versuch von Kontinentaleuropäern, "Llanfairpwllgwyngyllgogerychwyrndrobwllllantysiliogogogoch" auszusprechen:

derstandard.at/von usslar

(Maria von Usslar, 1.10.2015)