Vielleicht hat der Hausmeister etwas vergessen. Oder ein Lehrer will sich noch schnell frischmachen. Jedenfalls steht in einem kleinen Klassenzimmer der Carl-Orff-Grundschule (Volksschule) in Berlin eine Dose Rasierschaum. Mehdi (6) aber weiß schon, was jetzt kommt, und schaut erwartungsvoll.
Seine Lehrerin, Bettina Meyer-Herms, verteilt den Rasierschaum großzügig am Tisch in der zweiten Reihe. "Ein Bogen, runter und ein Strich", sagt sie und malt einen Zweier in den Schaum. "Macht mal!", fordert sie dann Mehdi und seinen Nachbarn Rihhard (7) auf. Die beiden kichern und tun es ihr eifrig gleich. "Bogen, runter, Strich und fertig", erklärt Mehdi zufrieden. Auch Schulleiterin Domenica Acri, die ihn beobachtet, ist angetan: "Vor zehn Tagen konnte Mehdi noch kein einziges Wort Deutsch."
Mit seinen Eltern ist der Sechsjährige aus Syrien geflohen. Wie Tausende andere auch kam er nach Berlin, und nun soll er hier Schulbildung bekommen. Doch er spricht kein Deutsch, und deshalb sitzt er nun jeden Vormittag zuerst in der "Willkommensklasse" der Carl-Orff-Schule. Eine "Willkommensklasse" richtet sich an jene Kinder, die kein Deutsch sprechen. Es gibt diese Einrichtung in 226 Berliner Schulen. 478 Lehrkräfte kümmern sich darin um rund 5000 Schülerinnen und Schülern.
"Zügiger Spracherwerb" lautet das vom Senat ausgegebene Ziel – damit die Kinder spätestens nach einem Jahr in die Regelklassen wechseln können. Doch in den Willkommensklassen wird weit mehr gelehrt als bloß die Sprache. Sie sind die Vorbereitung für das Leben in Deutschland.
"Es ist eine große Bereicherung, aber oft auch eine Herausforderung", sagt Meyer-Herms, "denn wir wissen über die meisten Kinder gar nichts, wenn sie zu uns kommen." Nichts über ihren Bildungsstand, nichts darüber, ob sie in ihrer Heimat überhaupt eine Schule besucht haben, nichts über ihre Lebensumstände oder die Flucht.
Manches erahnen sie auch ohne konkrete Informationen. "Man merkt, dass viele Kinder sehr ängstlich sind. Sie haben Angst vor der Dunkelheit und vor fremden Personen", sagt Meyer-Herms. Die Kerzen bei der Weihnachtsfeier waren auch nicht allen geheuer. Umso wichtiger ist es Meyer-Herms, dass ihre Schützlinge rasch Regeln lernen.
Diese sind in Form von Bildchen an der Tafel angebracht. Kuschelige kleine Raben zeigen, wie man sich benimmt: Man trägt in der Schule Hauspatschen, man rennt nicht im Gang, man sitzt ordentlich auf dem Sessel. "Wir wollen eine gesellschaftlich-kulturelle Integration ohne Assimilation", erklärt die Lehrerin. Deshalb werden in der Schulküche auch libysche Süßigkeiten hergestellt, über die sich die Berliner Kinder genauso freuen.
"Ohne das Engagement der Eltern und anderer privater Helfer könnten wir das so niemals schaffen", sagt Schulleiterin Acri. Und so gibt es an der Schule "Patenschaften" für Stifte, Hefte, Hausschuhe, Kleber, Schulhefte – für eigentlich alles, was Geld kostet und die Väter und Mütter der Flüchtlingskinder nicht bezahlen können.
Manchmal aber bleiben Schulsachen auch einfach zurück, und das Kind kommt von einem Tag auf den anderen nicht mehr. Im besseren Fall ist es mit seinen Eltern nur umgezogen, weil ein positiver Asylbescheid erging. Im schlechteren Fall ist es auf dem Weg zurück in seine Heimat, weil die Familie abgeschoben wird. Das geht auch an den Lehrern nicht spurlos vorbei.
Mehdis Perspektiven aber sind gut, er wird wohl bleiben können. Jetzt, am späten Vormittag, ist er schon ein wenig müde und reibt sich die Augen. Das Lernen hat nun ohnehin ein Ende. Denn den letzten Teil des Schultags verbringen die Kinder schon in den Regelklassen, um sich dort einzugewöhnen. Auch wenn sie vieles dort noch nicht ganz verstehen, eine Beobachtung macht Schulleiterin Acri immer wieder: "Die Verständigung zwischen den Kindern funktioniert völlig problemlos." (Birgit Baumann, 23.9.2015)