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Eine fliegende Händlerin in einer Elektritschka.

Foto: AP/Sergey Ponomarev

Die Fahrt mit einem Nahverkehrszug, im Russischen Elektritschka genannt, ist stets ein kleines Abenteuer. Wer etwas in Russland auf sich hält, vermeidet dieses Abenteuer in der Regel, denn gerade zu Stoßzeiten sitzen die Passagiere in der Elektritschka so eng zusammengepfercht wie in einer Sardinendose. Also quälen sich viele Moskauer lieber stundenlang durch einen kilometerlangen Stau. Dort sitzen sie dann in ihrer eigenen Sardinendose und fluchen über kleine Fische und große Haie.

Wem es an Geld, Zeit und Nerven fehlt, um sein Statussymbol Geländewagen spazieren zu fahren, der nutzt nach wie vor die Bahn. Lustiger ist es allemal, selbst oder gerade in der Holzklasse (die neuen "Express"-Züge eignen sich für den Spaß wegen der schärferen Kontrollen nur bedingt).

Rasierklingen und Moskitonetze im Zug erhältlich

Hier gibt es einen für europäische Verhältnisse ungewöhnlichen Service: Nicht nur Bier, Chips und Eis werden den Reisenden (gegen Bezahlung natürlich) an den Platz gebracht, fliegende Händler bieten auch Waren des täglichen und nicht so ganz alltäglichen Bedarfs an: Das Angebot reicht von Rasierklingen und Zeitschriften bis hin zu Moskitonetzen und Pflanzensamen. Teilweise sind die Waren sogar billiger als im Geschäft. "Sie sind vom Lastwagen gefallen", heißt es dann zur Begründung auf eine dumme Frage.

Das Geschäft im "Supermarkt auf Rädern" scheint zu florieren, denn die Händler werden seit Jahren nicht weniger. Nur auf die Idee, Möbel (und glücklicherweise auch Versicherungen) im Zug zu verkaufen, ist noch niemand gekommen.

Selbst für musikalische Unterhaltung ist gesorgt, denn immer wieder versuchen Musikstudenten, junge Künstler oder alte Vagabunden sich mithilfe ihres Instruments ein paar Rubel dazuzuverdienen. Das klingt manchmal schön, manchmal schaurig, die Stimmung im Waggon hebt es in jedem Fall.

Hasenjagd in der Elektritschka

Das größte Spektakel bietet den unerfahrenen Bahnfahrern jedoch ein neuer russischer Volkssport: Schwarzfahren. Nicht einer, zwei oder drei, sondern gleich ein gutes Dutzend solcher Schwarzfahrer – im russischen "Sajaz" (Hase) genannt – sind fast in jeder Elektritschka unterwegs.

Mit den Kontrolleuren liefern sie sich eine tägliche Hasenjagd. Entern die Uniformierten einen Waggon, stehen die Schwarzfahrer auf und gehen in den nächsten. Das Spiel geht so lange, bis der Zug an einer Station hält. Daraufhin springen die Schwarzfahrer aus dem Zug, rennen außen am Zug vorbei und steigen hinter den Kontrolleuren wieder ein.

Agile Großmütter

Da die Kontrolleure mehrfach durch den Zug gehen, wiederholt sich auf längeren Strecken das Schauspiel und dient somit der körperlichen Ertüchtigung von Jung und Alt. Pensionisten haben zwar Anspruch auf kostenlose Fahrten in ihrer Region, doch nicht alle Russen sind in der Region registriert, in der sie leben, und können so auf die Vergünstigungen zurückgreifen. Es ist daher mitunter erstaunlich zu sehen, wie schnell selbst einige "Babuschki" (Großmütter) noch laufen können.

Natürlich ist Schwarzfahren auch in Russland strafbar. Es wäre ein Leichtes, die "Hasen" zu erwischen. Doch der Diensteifer der Schaffner hält sich in Grenzen. Die Besoldung ist nicht hoch genug, um für eine Hatz durch den ganzen Zug zu motivieren. Und so bewahrheitet sich mal wieder ein russisches Sprichwort: Die Härte des russischen Gesetzes wird durch seine Nichteinhaltung gemildert. (André Ballin aus Moskau, 18.9.2015)