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In der Zeit nach dem Krieg waren aus Tschechien vertriebene Altösterreicher hierzulande nicht willkommen.

foto: apa/dpa

Tracht war ein deutsch besiedelter Marktflecken in der Nähe von Nikolsburg, der das Pech hatte, 1918 an die Tschechoslowakei zu fallen. Und der 1945 das weitere Pech hatte, dass die tschechische Mehrheitsbevölkerung alles, was irgendwie deutsch erschienen ist, ausradieren wollte. Otto Richter, der Bäcker des Ortes, der auf der Landkarte seither Strachotín heißt, hätte man vielleicht noch eine Zeit gebraucht – wenn er seine Familie im einige Kilometer entfernten Auspitzer Lager internieren hätte lassen.

Das aber wollte das damals 46 Jahre alte Familienoberhaupt in Kenntnis der inzwischen bekannt gewordenen Gräuel (das national-kommunistische Terrorregime hatte kurz zuvor den "Brünner Todesmarsch" in der Nähe vorbeigeführt) lieber nicht riskieren.

Dokumente, etwas Warmes zum Anziehen, einen Topf

Daraufhin warf man ihn aus dem Haus und enteignete im Handumdrehen die Bäckerei. "Wir durften nur mitnehmen, was wir tragen konnten, der Vater hat gesagt: Dokumente, etwas Warmes zum Anziehen und einen Topf, damit wir uns unterwegs vielleicht etwas kochen können", erinnert sich Tochter Dorothea, die damals 14 Jahre alt war.

Warme Strümpfe mitzunehmen, das hatte sie vergessen. Als sie nochmals ins Haus wollte, um die zu holen, hat sie der Sohn des neuen tschechischen Hausherrn angeblafft: "Raus da, das gehört jetzt alles mir."

Bei einem tschechischen Bauern im Ort fand die Familie für einige Nächte Unterschlupf. Als der Hinterausgang eines Nachts nicht bewacht war, "sind wir um drei in der Nacht losgezogen, der Vater, die Mutter, die Schwester und ich. Mein kleiner Bruder war da schon an der Ruhr gestorben, die hat sich nach dem Brünner Todesmarsch in unserer Gegend ausgebreitet. Später haben wir erfahren, dass man den Bauern erschossen hat, weil er unsere Flucht begünstigt hätte."

Weiter, weiter

Die Flucht ging zuerst zur österreichischen Grenze, die am Vormittag erreicht wurde – "da sind wir gut aufgenommen worden, wir konnten essen und uns ausschlafen bei einem Greißler, der uns auch Wolle und Strickzeug für neue Strümpfe geschenkt hat".

Aber wohin von dort? Wien (wo Verwandte gelebt haben) war zerbombt und von einer Hungersnot geplagt. In Bayern hatte die Schwester eine Bekannte, also ging es quer durch Niederösterreich ("ein Stück hat uns ein Russe mit dem Auto mitgenommen") zur Ennsbrücke, die damals Grenze der Besatzungszonen war, und in den Turnsaal einer Schule. Die Engländer verschenkten weißes Gebäck – das den Vertriebenen prompt bei einer der nächsten Übernachtungen auf einem Bauernhof wieder gestohlen wurde. Aber weiter, weiter. Nach Salzburg, zweimal übernachten im Hauptbahnhof. Weiter nach Freilassing. Weiter nach Pähl, wo der Bürgermeister die Geflüchteten für einige Monate in einem von Nonnen bewirtschafteten Schloss untergebracht hat.

Zukunftshoffnung, aber nichts zu essen

Dann der Kontakt zu einem Onkel in Wien: 1946 konnten Vater, Mutter und Tochter zu diesem Onkel in die Wiener Hetzgasse ziehen und einen Schlafplatz auf dem Boden finden, die Schwester blieb in Bayern. In Wien gab es zwar Zukunftshoffnung, aber nichts zu essen. Denn ohne ordentliche Wohnung keine Lebensmittelkarten – dafür der Wunsch der mit den Altösterreichern gar nicht glücklichen Regierung, diese wieder nach Deutschland abzuschieben: "Wir mussten uns registrieren lassen und sollten nach Ulm gebracht werden. Aber der letzte Zug ist ohne uns gefahren."

Also blieb man in Wien, der Vater fand Arbeit in einer Bäckerei – "da hat er immer etwas mitgebracht, das man tauschen konnte. Etwa gegen einen Anzug, den ihm eine Nachbarin aus einer alten Decke genäht hat." Und endlich wieder in die Schule gehen, "ich hatte ja seit der zweiten Hauptschulklasse keinen Unterricht mehr gehabt".

Österreicher waren die Altösterreicher damit noch lange nicht: "Der Vater musste ein halbes Jahr in den Wäldern an der Neunkirchner Allee arbeiten, dann hat er die Staatsbürgerschaft bekommen. 1000 Schilling hat die gekostet, damals ein Vermögen." (Conrad Seidl, 24.9.2015)