Der 34-jährige Etter reist ständig, etwa nach Kos oder entlang der Balkanroute

Foto: Andrea Ariel

Bis man Daniel Etter erreicht hat, muss man einige internationale Nummern durchtelefonieren. "Rufen Sie die zweite deutsche Nummer an, die unter meiner E-Mail steht", antwortete er, nachdem man ihn um ein Gespräch gebeten hatte. Doch das war vorgestern. Heute meldet sich niemand, weder unter der ersten noch unter der zweiten deutschen Nummer. Also wieder eine E-Mail. Prompt folgt die Antwort. "Hier erreichen Sie mich jetzt", schreibt er, und die Nummer beginnt mit dem Ländercode +34, also Spanien. Da hat der Interviewpartner also noch Glück: Denn prinzipiell pendelt Etter zwar zwischen Berlin und Barcelona, meistens ist er jedoch in irgendeinem aktuellen globalen Krisenherd anzutreffen.

Von Kos auf den Balkan

So auch in den vergangenen Monaten, in denen der Fotograf sich an die Fersen der syrischen Flüchtlinge geheftet und Bilder von den griechischen Inseln oder der Balkanroute geliefert hat. Einige Aufnahmen davon – sowie von anderen Schauplätzen – illustrieren diese Schwerpunktausgabe des STANDARD.

Das Kosmopolitische hat sich bei Daniel Etter schon früh entwickelt: Seine erste Reise als Berufsfotograf führte ihn nach Indien, die geschossenen Bilder konnte er gleich an die New York Times verkaufen. Seitdem sind seine Bilder in fast allen renommierten Medien weltweit erschienen, zum Beispiel im Time-Magazin, in Newsweek, Stern und Die Zeit.

Brennpunkte der Welt

Der Weg zur professionellen Fotografie war für Etter hingegen alles andere als vorgezeichnet. Er hatte das Fotografieren zwar "seit vielen Jahren im Kopf", erzählt er. Doch bevor er den Schritt zum Berufsfotografen wagte, studierte er noch Politikwissenschaften und klassischen Journalismus in Berlin. Das Studium finanzierte er sich teilweise schon mit Aufnahmen, vollends widmete er sich dieser Aufgabe ab 2010.

Seither war der 34-jährige Etter immer dort, wo es gerade brannte: im karibischen Haiti, um die Spätfolgen des verheerenden Erdbebens im Jahr 2010 zu dokumentieren. 2013 im Gezi-Park in Istanbul, wo die türkische Zivilgesellschaft gegen das autoritäre Gebaren des damaligen Regierungschefs und heutigen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan protestierte. Und immer wieder in Syrien, wo ein Aufstand gegen den Diktator Bashar Al-Assad gewaltvoll niedergeschlagen worden ist. Seitdem herrscht Bürgerkrieg, islamistische Terrorgruppen ziehen Spuren der Verwüstung durch das Land. Die Folgen sind genau jene Flüchtlingsbewegungen, die Europa derzeit in Atem halten.

Medieninteresse fehlte lange

Überraschen sollte die europäische Politik das nicht. "Ich habe schon lange am Thema Flüchtlinge gearbeitet, weil es mich interessiert", erzählt Etter. Allerdings sei das Medieninteresse – gelinde gesagt – zurückhaltend gewesen. Zumindest bevor zigtausende Syrer in Wien, München und Berlin ankamen.

Jetzt scheint es, als ob ganz Europa über kein anderes Thema mehr spricht – und Bilder den Ton dieser europaweiten Diskussion verändern. Eine dieser historischen Momentaufnahmen hat Etter geschossen: Das Foto zeigt einen irakischen Flüchtling, der nach der Überfahrt durch das Mittelmeer endlich auf der griechischen Insel Kos ankommt – und vor lauter Freude und Erschöpfung, seine kleine Tochter und den Sohn im Arm, in Tränen ausbrach. Die New York Times druckte das Bild groß ab, in sozialen Medien wurde es hunderttausende Male weiterverbreitet.

Komplexe Materie menschlich machen

"Bilder lösen etwas aus, sorgen für Emotionen", sagt Etter. Es gehe beim Fotografieren darum, eine komplexe Materie auf einen Aspekt zu reduzieren, um so menschliche Nähe zum Thema herzustellen. Doch nicht bei allen Menschen gelingt das: Wie umgehen mit jener "systemkritischen" Masse an Menschen, die "Lügenpresse" rufen und selbst Bilder wie jenes des toten syrischen Buben anzweifeln, der am Strand im türkischen Bodrum angespült worden ist?

"Es gibt Menschen, die sich nicht überzeugen lassen wollen", sagt Etter: "Sie sehen in jedem Fall eine Verschwörung." Er selbst versucht, seinen Job so gut und ausgewogen wie möglich zu erledigen. Als Aktivist sieht er sich nicht, auch wenn er natürlich "in erster Linie Mensch" sei. Aber: "Wenn andere dort sind, die helfen – dann ist es meine Aufgabe zu fotografieren."

"Aufklärungspflicht"

Würde der Fotojournalist Etter alles ablichten? Jede noch so grausame, aufwühlende Szene? Schon das Bild des toten syrischen Buben, dessen Abdruck Etter übrigens für vertretbar hält, sorgte für heftige Diskussionen über Medienethik. Viel Kritik hagelte es aber vor allem, als die Boulevardblätter Kronen Zeitung und die deutsche Bild ein Bild aus dem Inneren jenes Lkws zeigten, in dem 71 Flüchtlinge zu Tode kamen.

Für Etter ist die entscheidende Frage, ob der Abdruck des Bildes die Öffentlichkeit informieren oder zur Auflagensteigerung beitragen soll. "Es gibt eine Aufklärungspflicht darüber, was an der Grenze zu Europa passiert."

Dokumentiertes Grauen

Als Fotograf dürfe er über diese Frage allerdings nicht nachdenken. "Ich bin in meinem Beruf gescheitert, wenn ich mir denken würde, etwas sei zu schrecklich, um fotografiert zu werden." Denn Bilder können das Grauen immer auch dokumentieren.

Etter erzählt von einem Aufenthalt in Libyen im Jahr 2011, der ihn zu dieser Sichtweise gebracht hat. Damals tobte im Land der Bürgerkrieg. Etter gelangte in ein Krankenhaus. Was er darin fand, werde er "nie vergessen": In jedem Zimmer waren Leichen, im Keller "stapelten sich die toten Körper" sogar. Etter machte drei Fotos, doch dann brach er ab. Was solle es bringen, dieses Grauen festzuhalten?

Heute ärgert er sich darüber: Man hätte die Zustände dort dokumentieren müssen, die Verbrechen für die Nachwelt festhalten. Deshalb will er den Blick nicht mehr abwenden. In wenigen Tagen wird er wieder aufbrechen. (Fabian Schmid, 18.9.2015)