Song Yuqin blickt verhärmt auf den Boden. Sie hört zu, was ihr Mann berichtet, wie es zum Tod ihres 18-jährigen Sohnes Jia Naiyuan kam. Als dieser den beiden Korrespondenten aus Peking sagt: "Ich will kein Geld. Ich will nur ‚ming‘, das Ansehen, das meinem Jungen zusteht", weint die Mutter: "Sie können mir noch so viel geben. Sie bringen mir meinen Sohn nicht wieder."

Fast sechs Wochen sind seit den verheerenden Chemie-Explosionen im Tianjiner Frachthafen Binhai vergangen, die kilometerweit Gebäude und Fabriken zerstörten. Die Fotos tausender ausgebrannter Pkws und komplett zerstörter Hochhausfronten in der "Hafencity" gingen um die Welt. Weil sich die Katastrophe eine halbe Stunde vor Mitternacht ereignete und die aufeinandergestapelten Container die Wucht der Detonationen dämmten, starben "nur" 173 Menschen. 104 von ihnen waren Feuerwehrleute, so wie Sohn Jia aus der Bauernfamilie.

Die Eltern des 18-jährigen Jia Naiyuan.
Foto: Erling

Seele befreit

Am Mittwoch, 35 Tage nach seinem Tod, haben seine Eltern nach traditioneller Sitte die Seele ihres Jungen befreit. Sie und seine Schwester verneigten sich vor seinem Foto in der Urnenhalle ihres Viertels am südlichen Stadtrand von Tianjin. Sie verbrannten Papiergeld für die abschließende Andacht, die sie "Wu Qi" nennen. Fünfmal, alle sieben Tage, muss der Seele eines Gestorbenen gedacht werden, damit sie nicht mehr in der Welt umherirrt.

Es sind die Hinterbliebenen, die keine Ruhe finden, und die Beamten, die um das Image ihrer Stadt bangen. Der Chemie-GAU hat die gesetzlose Kehrseite von Chinas Wachstumswunder offenbart. Die Behörden in der supermodernen Hafenmetropole, die über Highspeed-Züge mit der 120 Kilometer entfernten Hauptstadt Peking verbunden ist, tun daher alles, um die grässliche Wunde unsichtbar zu machen und zur Tagesordnung überzugehen. Noch immer wacht ein großes Polizeiaufgebot darüber, dass Journalisten ihnen keinen Strich durch die Rechnung machen. Nur unter Mühen und über Schleichwege lässt sich mit Betroffenen sprechen. Die Beamten verhinderten die Begegnung mit demonstrierenden Apartmentbesitzern, verlangten Ausweise zu sehen und wollten uns abführen.

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Ein Arbeiter geht mit Gasmaske über das planierte Gelände des Unglücks.
Foto: REUTERS/Stringer

Misstrauen der Bewohner

Viele Wohnungsbesitzer trauen den Offiziellen nicht. Niemand hatte ihnen gesagt oder sie davor geschützt, neben 3.000 Tonnen Chemikalien zu leben. Als die sich aus bis heute ungeklärten Gründen entzündeten und mit einer Sprengkraft von 21 Tonnen TNT explodierten, wurden 17.000 Wohnungen zerstört oder stark beschädigt. Die Stadt hat ihnen Entschädigungen in Höhe des 1,3-fachen ursprünglichen Marktwertes ihrer Wohnungen versprochen.

Das klingt gut, aber: "Wer stellt den Wert fest? Bisher bekam jeder von uns nur 6.000 Yuan (900 Euro), um irgendwo unterzukommen", sagt eine Frau, die sich Yang nennt. "Sie wollen uns zwingen, eine Abfindungserklärung pauschal zu unterschreiben und unsere Proteste einzustellen. Wir gehen hier nicht weg." Wie viele andere hat die Mittelstandsbürgerin ihre Wut und ihre Angst, betrogen zu werden, auf ihr T-Shirt geschrieben. Um sie herum sitzen Polizisten in Autos. Sie schreiten ein, als sie die Ausländer zu den Anwohnern gehen sehen.

Jia wurde per Urkunde zum Märtyrer erklärt.
Foto: Erling

Grab auf dem Heldenfriedhof

Die Eltern des 18-jährigen Jia hatten sich anfangs nicht beschwert. Sie waren die erste Familie, die der Einäscherung ihres Sohnes zustimmten, als eine DNA-Untersuchung nach acht Tagen seinen Tod zweifelsfrei bestätigte. Unbürokratisch schnell erhielten sie wie alle anderen Familien verstorbener Feuerwehrleute jeweils 2,3 Millionen Yuan (300.000 Euro) Entschädigung.

Das war kurz nachdem der nach Tianjin gekommene Premier Li Keqiang der Stadt befahl, aufzuräumen, sich rasch um die Angehörigen der Feuerwehrleute zu kümmern und die Katastrophe aufzuklären. Zwei Urkunden loben den Sohn als Märtyrer. Zu der, wie Vater Jia Shuanglai sagt, "würdigen" Trauerzeremonie kamen auch viele Offizielle und salutierten vor dem Grabstein für den Jungen auf dem Heldenfriedhof von Tanggu.

Tod zweiter Klasse

Dann entwertete eine amtliche Nachricht die Gesten des Mitleids. Der Staat und die TV-Nachrichten zelebrierten eine weitere Totenmesse, diesmal für 24 Brandbekämpfer unter den 104 Toten, die Mitglieder der staatlichen Feuerwehren waren. Ihre Verwandten erhielten posthum militärische Verdienstauszeichnungen des höchsten Grades und dazu ein goldenes "Abzeichen für das zur Landesverteidigung erbrachte Opfer" des Verstorbenen.

Diese 24 hatten dem Ministerium für öffentliche Sicherheit unterstanden, während die 80 anderen ums Leben gekommenen Feuerwehrleute "nur" als Helfer auf Vertragsbasis zur Hafenfeuerwehr gehörten. Sein Sohn sei einen Tod zweiter Klasse gestorben, sagte der Vater tief verletzt. Wie stolz war er auf ihn gewesen, der er mit 16 Jahren nach Abschluss der Mittelschule bei der Hafenfeuerwehr anfing und es dort zum Teamchef brachte. Der Junge war ihr zweites Kind, sagte der Vater. Sie verstießen gegen Chinas Ein-Kind-Politik. Die Familie habe 1997 all ihr Geld zusammengekratzt, um die Strafgebühr aufzubringen. "Wir zahlten für ihn 80.000 Yuan". Das entspricht 11.100 Euro.

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Der Krater kurz nach der verheerenden Explosion.
Foto: EPA/STR

Medien spielen Unglück herunter

So verheilen die Wunden nicht, zumal die Tianjiner Behörden der Bevölkerung noch immer nicht sagen, wie und warum sich das Feuer entzündete und zu welchen Kettenreaktionen es zwischen den 700 Tonnen hochgiftigem Natriumcyanid, 800 Tonnen hochentzündlichem Ammoniumnitrat, 500 Tonnen Kalisalpeter und weiteren 1.000 Tonnen mit 40 Chemikalien kam.

Seit Anfang September spielen die gelenkten Zeitungen in Tianjin Nachrichten über das Unglück herunter. In den 300 Grund- und Mittelschulen im Binhai-Bezirk wird wieder gelernt, auch in den 15 der 16 beschädigten Schulen. Als Randnotiz erschien am 11. September die Meldung, dass Verwandte die letzten acht noch Vermissten bei den Gerichten für "tot" erklären lassen können.

Brisante Fakten

Nur die Mühlen der Justiz mahlen. 24 Personen sind verhaftet worden, darunter alle Chefs des Unglücksunternehmens Ruihai International Logistic, aber auch aus den Aufsichtsbehörden. Sie konnten sich offenbar dank ihrer Seilschaften, politischen Beziehungen und Geld alle Genehmigungen beschaffen, gleichgültig, wie illegal sie sich verhielten, etwa für den viel zu nah gewählten Abstand zu Wohnhäusern und zur Autobahn. Die mutige finanzpolitische Zeitschrift "Caixin" ist mit ihrer Septembernummer eine der wenigen, die sich noch trauen, brisante Fakten zu enthüllen.

So wussten die Hafenfeuerwehren nicht, was für Chemikalien gelagert wurden, von denen viele wasserentzündlich sind. Es gab niemanden, der nach dem vorgeschriebenen Sicherheitsdokument (MSDS – Material Safety Data Sheet) verlangte. Letztendlich spielte das keine Rolle, weil, wie "Caixin" schreibt, "vier Fünftel" der Chemiewarenhändler ihre MSDS-Angaben fälschten, um Gebühren zu sparen, Gefahrengüter transportieren oder lagern zu dürfen.

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Niemand kann sagen, wieso die Chemikalien explodiert sind.
Foto: Reuters/Stringer

Lagerplatz bereits planiert

Wirtschaftsverkehr und Hafenumschlag laufen wieder auf vollen Touren. Die Stadt hält nur die Zufahrten zum Epizentrum des Unglücks weitgehend gesperrt. Doch zu Fuß entlang des Seitenstreifens der Überführungsautobahn Haibian S11 lassen sich die Kontrollen umgehen. Von der Überführung aus ist der wenige Hundert Meter entfernte, einst sechs Meter tiefe mit Wasser vollgelaufene Explosionskrater zu erkennen. Er ist inzwischen abgedeckt. Seine cyanidhaltige Giftbrühe wird abgepumpt und mit Tanklastern zu Klärwerken abgefahren. Zugleich soll auch die verseuchte Erde nach und nach abgetragen werden.

Der riesige Lagerplatz, wo im August eingestürzte Hallen, Containerwracks und flächenweit ausgebrannte Autos standen, ist leergeräumt und schon planiert. Das "Binhai New Area"-Amt für Bodenplanung hat Pläne für einen 24 Hektar großen Gedenkpark vorgestellt mit einem "Denkmal des Stolzes", das Unglück überwunden zu haben. Bald soll auf dem Platz nichts mehr an die Explosionen erinnern. Vor der Straße ist wieder frisches Buschwerk gepflanzt.

Ein Ehepaar hält am Seitenstreifen der Autobahnhochstraße. Beide blicken vom Geländer schweigend auf den Frachthof unter ihnen. Der Mann deutet auf ein kleines, völlig zerstörtes Gebäude, das einzige, das auf dem abgeräumten Gelände noch steht. "Da unten starb unser 21-jähriger Sohn", sagt er. "Er war Feuerwehrmann. Seither kommen wir jeden Tag hierher, um auf die Stelle zu schauen." Die Narben des Unglücks sind noch frisch. (Johnny Erling aus Tianjin, 22.9.2015)