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16. September, Santiago de Chile. Ein Erdbeben der Stärke 8,4 löst in weiten Teilen des Pazifikraums eine Tsunami-Warnung aus.

Foto: REUTERS/Pablo Sanhueza

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Nach dem Erdbeben warten die Menschen auf der Straße.

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Nach dem Beben nimmt man die Treppe zurück in die Wohnung – der Lift darf nicht verwendet werden.

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Entlang der Küstenregion werden eine Million Menschen in Sicherheit gebracht.

Foto: REUTERS/Rodrigo Garrido

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Angespanntes Warten in Valparaiso.

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Auch in Coquimbo werden die Bewohner evakuiert. Die Hafenstadt wird von über vier Meter hohen Tsunamiwellen getroffen.

Foto: APA/EPA/Alejandro Pizarro

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Bei dem sechststärksten Erdbeben in der Geschichte Chiles kommen 13 Menschen ums Leben.

Foto: REUTERS/Ivan Alvarado

Es ist kurz vor 20 Uhr an diesem Mittwochabend. Wir liegen im Bett und sehen uns "Interstellar" an. Ich verstehe schon wieder etwas nicht, stelle meinem Freund gerade eine Frage, als er mich unterbricht und sagt: "Da ist eine Erdbewegung." Ich erschrecke und spüre plötzlich auch, dass die Erde bebt; mein Freund sagt mir, ich solle zur Eingangstür gehen. Wir haben bereits darüber gesprochen, was im Falle eines Erdbebens zu tun ist – die wichtigste Instruktion ist am allerschwierigsten umzusetzen: "Bleib ruhig."

Als würde ein Riese am Haus rütteln

Als ich den Eingangsbereich zu unserer kleinen Wohnung erreiche, die im Süden von Santiago de Chile im fünften Stock eines Wohnkomplexes liegt, sind die Nachbarn bereits da. Die Nachbarin von gegenüber ist schwanger und hat ihre Tochter, die im Kindergartenalter ist, im Arm. Jene von nebenan steht mit ihrem etwa zehnjährigen Sohn im Eingangsbereich ihrer Wohnung. Das Beben hat sich verstärkt, doch was man spürt, ist kein Vibrieren – es fühlt sich eher an, als würde ein Riese am Haus rütteln. Die Häuser in Santiago sind so konstruiert, dass sie die Erdbewegungen absorbieren und sich mitbewegen, anstatt zu kollabieren. 2010 gab es ein noch viel stärkeres Beben (8,8 auf der Richterskala) – die meisten Häuser, die heute in Santiago zusehen sind, haben jenes Beben im wahrsten Sinne des Wortes überstanden.

Mittlerweile ist das Beben richtig stark. Die Wohnungstür ist hinter mir zugefallen, ich halte mich an beiden Seiten des Türstocks fest und zwinge mich, tief durchzuatmen und ruhig zu bleiben; schon allein deshalb, um die anwesenden Kinder nicht in Panik zu versetzen. Mein Freund steht bei der Nachbarin gegenüber, der der Schreck und die Angst an den Augen abzulesen sind, und umarmt sie und ihre Tochter. Sehr heldenhaft, fast plakativ, aber es ist tatsächlich er, der uns alle beruhigt – später wird er mir erzählen, dass ihn das viel Überwindung gekostet hat. Wie man das so oft von Überlebenden von Katastrophen hört, kommen mir die Sekunden wie Stunden vor. Ich fühle mich völlig ausgeliefert und merke dennoch, wie das Haus stabil bleibt – keine Geräusche von fallendem Geschirr, einreißenden Wänden oder zerbrochenen Fenstern.

Es ist ein "großes" Erdbeben

Als das eigentliche Beben endlich vorbei ist, folge ich hektisch den Instruktionen meines Freundes: hole Wasser, etwas zu essen, Decken und unsere Handys, packe alles zusammen in einen großen Plastiksack und ziehe mir die Schuhe an. Er hilft währenddessen den Nachbarinnen und muss mich immer wieder ermahnen, ruhig zu bleiben. Ich folge auch dieser Instruktion. Als alle fertig gepackt haben, gehen wir zusammen in den Innenhof, wo Kinder lachend herumlaufen und die Erwachsenen nervös auf ihre Smartphones starren und an ihren Zigaretten ziehen. Es ist mit Nachbeben zu rechnen, daher sollten wir für einige Zeit hier bleiben.

Mein Freund versucht, seine Familie anzurufen, doch sein Handy hat keinen Empfang mehr, meines hingegen schon. Immer wieder versucht er, eine Verbindung herzustellen, aber das Telefonnetz ist vermutlich völlig überlastet. Eine Nachbarin hat das Radio eingeschaltet, wir hören zum ersten Mal, wie stark das Beben war, es wird in der Metropolregion auf Stärke 6 bis 7 auf der Richterskala eingeschätzt. Die Radiomoderatorin verwendet die Bezeichnung "starke Erdbewegung" (Spanisch: "fuerte sismo") statt "Erdbeben" ("terremoto"). Die Nachbarin wundert sich: "Das war eindeutig ein Erdbeben!" Später wird sich herausstellen, dass es eine "starke Erdbewegung" von 7,4 auf der Richterskala, also ein "großes" Erdbeben laut Richterskala war, im Epizentrum des Bebens, etwa 300 Kilometer nördlich der Hauptstadt, war es noch stärker.

Mit dem ersten Nachbeben kommt die Angst

Als das erste Nachbeben eintritt, bekomme ich es mit der Angst zu tun. Nicht weil es ein starkes Nachbeben ist – wir werden während der Nacht noch stärkere erleben –, sondern weil mir bewusst wird: Das war's noch nicht.

Das Unangenehme daran, in einer Erbebenregion zu leben – und ganz Chile ist eine Erdbebenregion –, ist, dass man jederzeit damit rechnen muss, dass "es bebt". Schon vor diesem Erdbeben habe ich seit meiner Ankunft in Chile vor circa sieben Wochen mehrere Erdbewegungen miterlebt – aber eben nur Erdbewegungen ("sismos"), keine Erdbeben ("terremotos").

Nach etwa einer halben Stunde im Freien beschließen wir, wieder in die Wohnung zu gehen und dort zu überlegen, wie wir weitermachen. Es ist gerade Frühling in Chile; auch wenn es tagsüber warm ist, wird es nachts kalt, und mittlerweile ist es dunkel draußen und ich friere. Auf dem Weg nach oben läutet mein Handy – erstaunt sehe ich, dass mich meine Schwester aus Österreich anruft. Wow, denke ich, die Nachricht vom Beben hat sich schneller verbreitet als erwartet. Etwas außer Atem vom Aufstieg zur Wohnung über das Treppenhaus (der Lift darf nicht mehr verwendet werden) spreche ich mit ihr (und hoffe, dass sie von meinem schweren Atmen nicht rückschließt, ich sei panisch); sie sagt mir, sie hätte online gelesen, es hätte ein starkes Erdbeben in Chile gegeben – ich sage ihr, dass es mir gut geht und dass wir uns auf Nachbeben vorbereiten werden. Sie scheint beruhigt.

Schokolade in der U-Bahn

Zurück in der Wohnung, erreicht mein Freund endlich seine Mutter. Sie will, dass wir zu ihr kommen, da sie in einem nur einstöckigen Haus lebt, gemeinsam mit ihrer eigenen Mutter, die bei Erdbeben immer höchst unruhig, wenn nicht gar panisch wird und sich auch jetzt Sorgen um uns macht. Mir graust bei dem Gedanken, im Falle eines weiteren Bebens nicht einfach aus dem Haus laufen zu können, sondern im fünften Stock bleiben zu müssen. Doch auch die Fahrt mit der U-Bahn macht Angst. Ich gehe gedanklich unsere Optionen durch, und mir fällt ein, dass die U-Bahn dorthin großteils überirdisch fährt. Wir beschließen also, die U-Bahn zu nehmen, obwohl weiterhin jederzeit Nachbeben stattfinden können.

Auf dem Weg zur U-Bahn-Station fühle ich mich schon deutlich besser, wir scherzen und lachen, die Stimmung ist viel gelöster. Ich kann nicht glauben, was ich da in unserer Straße beobachte. Da an diesem Freitag, dem 18. September, Unabhängigkeitstag in Chile ist, hat hier bereits am Nachmittag ein Straßenfest begonnen. Als wir die Hauptbühne erreichen, wird dort getanzt und gesungen, als wäre gar nichts passiert. Auch sonst verrät auf den ersten Blick nichts, dass hier gerade ein starkes Erdbeben stattgefunden hat.

Endlich in der U-Bahn, sehe ich auch hier keine schreckerstarrten Gesichter, mir fällt lediglich auf, dass mehr Menschen als üblich telefonieren und dass die U-Bahn langsamer fährt als sonst. Ein Schokoladeverkäufer, wie man sie in der Santiagoer Metro so oft trifft, scherzt: "Bleiben Sie ruhig – mit einem Stück Schokolade!" Aber nur wenige Fahrgäste kaufen ihm etwas ab, die meisten sind ohnehin ruhig.

Die Taschenlampen liegen griffbereit

Als wir endlich das Haus der Familie meines Freundes erreichen, merke ich, wie unruhig seine Großmutter ist. Sie gibt mir eine feste Umarmung, drückt meine Hand, ihr stehen die Tränen in den Augen. Ich bin froh, dass wir hier sind, und sie ist es offensichtlich auch. Im Haus ist bereits alles für ein Nachbeben vorbereitet: Alles Wertvolle, das zerbrechlich ist, haben die Frauen auf den Boden gestellt, die Taschenlampen liegen auf dem Tisch bereit, für den Fall, dass der Strom ausfällt, Wasser ist in Flaschen abgefüllt, falls die Wasserversorgung unterbrochen wird. Ich ziehe mir weder meine Schuhe noch meinen Mantel aus, falls wir das Haus verlassen und in der nächtlichen Kälte ausharren müssen.

Mittlerweile ist es etwa 22 Uhr, zwei Stunden nach dem Beben. Während des Abendessens – die Chilenen essen spät zu Abend – gibt ein leichtes Nachbeben. Wir sprechen über Belangloses, wollen uns ablenken.

Die Küstenregion wird evakuiert

Um Mitternacht hat sich mein Adrenalinspiegel so weit gesenkt, dass mich meine Müdigkeit förmlich übermannt. Ich ziehe mir einen dicken Pyjama an, lege mich in das Bett meiner Schwiegermutter im ersten Stock und schlafe innerhalb weniger Minuten ein.

Kurz vor ein Uhr weckt mich mein Freund und sagt mir, nach unten zu gehen. Noch bevor er den Satz beendet, spüre ich das Nachbeben. Es ist stärker als die beiden ersten, ich laufe nach unten, bleibe aber ruhig. Schon einige Minuten später liege ich wieder im Bett. Wir sehen im Fernsehen, wie die Menschen in den Küstenregionen evakuiert werden. Es sind Bilder von über den Gehsteig laufenden Menschen, denen man die Angst vor dem drohenden Tsunami ansieht. Ich bin froh, hier in Santiago zu sein, wo man dank der Cordilleras (Gebirgsketten, Anm.) zu beiden Seiten der Stadt vor Tsunamis geschützt ist – die gleichen Gebirgsketten übrigens, die ich sonst verfluche, da sie Santiago zu einer der Städte mit der stärksten Luftverschmutzung weltweit machen.

"Pass auf, die Strommasten!"

Als wir also auf den Fernsehbildschirm starren, fühlen wir plötzlich, dass die Erde schon wieder bebt, diesmal aber noch einmal deutlich stärker. Mein Freund will schon auf die Straße laufen, seine Mutter und Großmutter halten ihn zurück. "Pass auf, die Strommasten!", rufen sie. Mir wird flau, als ich den Satz höre. Ich stehe barfuß auf dem kurzen Weg zwischen Haus und Straße und starre den nächsten Strommast an. Was, wenn er umfällt? Ich versuche den Gedanken so gut ich kann zu unterdrücken und stelle mich zu den Frauen im Eingangsbereich. Etwa eine Minute vergeht, bis auch dieses Beben wieder vorbei ist.

Zurück im Haus, beschließen mein Freund und ich, im Wohnzimmer im Erdgeschoß zu schlafen. Ich auf dem Sofa, mein Freund – ganz der Held und Gentleman – legt sich die Sofapolster auf dem Teppichboden zurecht. Die Großmutter schläft im Sitzen in einem der Sessel. Ich versuche mich zu beruhigen, bin einigermaßen nervös. In einigen Stunden werden meine Familie und Freunde in Österreich wach sein und von dem Erdbeben hören. Ich habe ihnen bereits geschrieben, dass es mir gut geht. Ich denke an die Menschen in der Küstenregion, die in der Kälte sitzend ausharren müssen – nicht wissend, ob sie morgen noch ein intaktes Zuhause haben werden. Darauf zu warten, dass etwas Schlimmes passiert (oder auch nicht), ist ein furchtbares Gefühl. Man fühlt sich ausgeliefert; muss ruhig bleiben, obwohl der Körper bewegt werden will, das Adrenalin in den Adern eine Flucht provoziert. Aber wohin flüchten? Es ist etwa halb zwei, als ich endlich einschlafe.

Nachtrag

Wir sind seit Freitagabend wieder in unserer Wohnung, wo man die Beben deutlich stärker spürt. Allein am Freitagmorgen gab es drei Nachbeben innerhalb von etwa zwei Stunden, ich wurde sozusagen aus dem Schlaf gerüttelt. Gut 300 Nachbeben gab es laut Regierungsangaben vom Wochenende. Eine Freundin hat mich gefragt, ob ich Angst hätte. Die Antwort darauf lautet: Ja und nein. Einerseits werde ich nervös, wenn es wieder einmal bebt, andererseits habe ich vor kleineren Beben an sich keine Angst mehr. (Maresa Mayer, 22.9.2015)