Fernsehberichte, Videos im Internet, Zeitungsreportagen und nicht zuletzt die gegenseitigen öffentlichen Schuldzuweisungen zwischen Serbien und Ungarn, Ungarn und Kroatien, Kroatien und Slowenien, Mazedonien und Griechenland lassen die bedenklich wachsenden Spannungen in den Beziehungen südost- und osteuropäischer Staaten untereinander erkennen. Statt einer minimalen Zusammenarbeit der neuen EU-Mitgliedstaaten und -Kandidaten bemühen sich die Regierungen lediglich um Schadensbegrenzung in den internationalen Medien.
Die hämischen Schimpfkanonaden der ungarischen und rumänischen, kroatischen und serbischen Außenminister gegeneinander bestätigen eindrucksvoll die Feststellung der serbischen Politologin Jelena Milic (Spiegel online) über "eine totale Hysterie in der Region": "Statt des gerade jetzt so wichtigen rationalen Vorgehens bezüglich der Notaufnahme von Flüchtlingen werden die Äußerungen von Regierungen an die Adresse von Nachbarländern immer emotionaler." Ihr bulgarischer Kollege Ognjan Mintschew sieht zu Recht eine "Renationalisierung der Grenzen" in Mittel und Südosteuropa.
Angesichts der überheblichen Kommentare in manchen Medien in den USA, Großbritannien und Frankreich muss man freilich auch an die Verantwortung der Regierungen in Griechenland und Italien sowie der zuständigen EU-Institutionen erinnern. Die griechische politische Klasse ist zum Beispiel nicht nur für die Wirtschaftspleite verantwortlich, sondern auch für die chaotische Behandlung der auf dem gefährlichen Seeweg aus der Türkei ankommenden und ohne Registrierung sofort nach Mazedonien transportierten Flüchtlinge.
Die pauschale Verurteilung der mittel- und osteuropäischen Länder, die erst nach mehr als vier Jahrzehnten der Unterdrückung ihre Freiheit und Unabhängigkeit zurückgewonnen haben, ist ungerecht und kontraproduktiv. Die geplanten Mehrheitsentscheidungen über so heikle Fragen wie die verpflichtenden Verteilungsquoten für Flüchtlinge wären politisch riskant. Fest steht, dass die EU bei der rechtzeitigen Ausarbeitung einer Flüchtlingspolitik versagt hat. Von Frankreich und Dänemark bis Schweden und Österreich zeichnet sich deshalb ein scheinbar unaufhaltsamer Aufstieg fremdenfeindlicher, rechtspopulistischer Parteien ab.
Die mit Abstand wichtigste europäische Weichenstellung dürfte allerdings in Deutschland erfolgen. Berlin bereitet sich auf die Aufnahme von einer Million Menschen aus fernen Ländern bis Ende dieses Jahres vor. Was die Bundeskanzlerin auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise sagte: "Wir können es schaffen, und wir schaffen das", wurde von hunderttausenden Menschen im Nahen Osten und auf dem Balkan als kollektive Einladung verstanden. Angela Merkel wird bereits in ihrer eigenen Partei für die ohne Absprache mit Bayern und den anderen Bundesländern vorgenommene Öffnung offen kritisiert. Einflussreiche Medien werfen ihr vor, mit ihrem unbekümmerten Vorgehen schaffe sie Chaos, spalte sie die Europäische Union und löse sie dramatische organisatorische, politische und finanzielle Folgen in Deutschland aus. Sie sei inkonsequent und unberechenbar, "eine Elefantin im Porzellanladen", so der Welt-Publizist Alan Posener. (Paul Lendvai, 21.9.2015)