STANDARD: Europa war trotz Warnungen vor vielen Monaten schlecht auf den Flüchtlingsansturm vorbereitet. Wie beurteilen Sie die Vorgangsweise der EU?
Carl Bildt: Viele Nationen waren nicht auf diesen Massenansturm vorbereitet. Das ist ein Faktum. Jetzt versucht man, das in Ordnung zu bringen. Natürlich war der Zustrom zu erwarten, aber lange Zeit sind weniger Flüchtlinge nach Europa gekommen, sodass die jetzigen Massen doch plötzlich kamen.
STANDARD: Worin sehen Sie den Grund für die plötzliche Zunahme der Flüchtlinge?
Bildt: Es gibt eine massive Unterfinanzierung des World-Food-Programms (WFP), das um 40 Prozent gekürzt wurde. Die Streichung der Mittel ist eine Ursache für die jetzige Flüchtlingswelle. Wichtig ist, dass die betroffenen Personen in der Region betreut werden. Diese Länder brauchen wirtschaftliche Hilfe.
STANDARD: Ein Sondergipfel wird sich am Mittwoch dem Flüchtlingsthema widmen. Dabei geht es um eine bessere Verteilung der Asylwerber. Ist das ausreichend?
Bildt: Das ist eine kurzfristige Maßnahme, um den Druck auf Länder wie Griechenland und Ungarn zu nehmen. Ich erwarte nicht, dass alle Probleme beim Sondergipfel gelöst werden, aber ich hoffe, dass die Richtung vorgegeben wird. Dann wird es relativ lange dauern, um nachhaltige Maßnahmen zu setzen.
STANDARD: Angesichts der Streitigkeiten innerhalb der EU stellt sich die Frage, ob Europa an der Flüchtlingsfrage zerbrechen kann?
Bildt: Grundsätzlich nein, weil die Mitgliedstaaten zwar in einigen Punkten unterschiedlicher Auffassung sind, aber übereinstimmen, dass es einer gemeinsamen Lösung bedarf.
STANDARD: Schweden hat pro Kopf die höchste Zahl an Asylwerbern in Europa, die Integration scheint aber grosso modo zu funktionieren. Wie erklären Sie sich das?
Bildt: Wir haben auch unsere Herausforderungen. Man darf nicht vergessen, dass die Asylwerber großteils über einen längeren Zeitraum gekommen sind. Auch wir haben Probleme, wenn so viele Menschen in so kurzer Zeit nach Schweden gelangen. Die größte Herausforderung liegt in der Integration, bei der wir nicht so gut sind, wie wir sein sollten. Die wichtigsten Dinge sind, einen Job zu bekommen und die Sprache zu lernen. Das dauert viel zu lang.
STANDARD: Denken Sie, Schweden wird die Grenzen angesichts der neuen Flüchtlingsströme und der steigenden Anhängerschaft der rechtspopulistischen Schweden demokraten offen halten?
Bildt: Ich denke ja. Die Schweden sind nach wie vor offen und tolerant, aber wegen der Integration auch besorgt. Wenn Sie sich die Demografie ansehen, kommt man zu dem Schluss: Europa braucht Zuwanderung, die Frage ist nur wie und wann. Die schwedische Industrie beispielsweise sucht verzweifelt Fachkräfte. Wir haben Ingenieure aus Serbien und IT-Fachleute aus Indien, damit das Land funktioniert. Allein im Gesundheitswesen kommt ein Viertel aller Beschäftigten aus dem Ausland.
STANDARD: Denken Sie, dass die jetzigen Flüchtlinge die geeigneten Qualifikationen und Einstellungen mitbringen?
Bildt: Das wissen wir noch nicht. Einige werden sie bereits jetzt haben, andere sich die geforderten Qualifikationen aneignen, andere wiederum nicht. Es gibt eine umfassende Studie über die bosnischen Flüchtlinge, die vor 20 Jahren gekommen sind. Im Durchschnitt haben sie sich besser entwickelt als die Schweden.
STANDARD: Thema Syrien: Halten Sie ein stärkeres Einschreiten Russlands, möglicherweise mit Bodentruppen, für realistisch?
Bildt: Russland verstärkt zwar seine militärische Präsenz, ich bezweifle aber, dass es zu einem Kampfeinsatz bereit ist. Das gilt sowohl für die Luftstreitkräfte als auch für Bodentruppen. Für einen echten Einmarsch bedarf es einer Armee mit hunderttausenden Soldaten. Niemand hat in der Region eine derartige Armee – außer der Türkei. Und ein Einschreiten der Türkei würde mehr Probleme als Lösungen bringen.
STANDARD: Kann es eine Lösung im Konflikt ohne Einbindung von Bashar al-Assad geben?
Bildt: Ich kann mir keine langfristige Lösung des Konflikts mit Assad vorstellen. Er ist für mehr als 200.000 Tote verantwortlich. Die meisten Flüchtlinge, die jetzt nach Europa kommen, fliehen nicht vor dem IS, sondern vor Assad. Es sind seine Bombardements, die zu dieser humanitären Lage geführt haben. (Andreas Schnauer, 22.9.2015)