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Ein Kapitel in vielen Fluchtgeschichten dieser Tage: die Überfahrt von der türkischen Küste zu einer griechischen Insel.

foto: reuters/umit bektas

Mitten in der Nacht trieb ich zusammengepfercht mit 26 anderen Flüchtlingen in einem Schlauchboot im Mittelmeer. Das Boot hatte einen dünnen Holzboden. Die Gummiwände waren nicht ordentlich aufgeblasen. Mein einziger Gedanke – und der Hauptgrund, warum ich mich auf diese für viele tödliche Überfahrt begab – war der an meine schwangere Frau Waad, die mich zuerst überhaupt nicht gehen lassen wollte. "Ich mache das nur, damit unser Sohn eine Zukunft hat", sagte ich ihr. Ich habe gesehen, dass syrische Flüchtlingskinder arbeiten müssen und schlechte Chancen auf Schulbildung haben. Ich wollte nicht, dass das unserem Sohn passiert. Ich wollte, dass er eine Zukunft hat. Ich war bereit, mein Leben zu riskieren, damit seines besser wird.

Ein Hoffnungsschimmer

Wir wurden heimlich auf das Boot gebracht. Eine gefährliche Reise voller Umwege durch die Türkei begann, organisiert von der Schleppermafia. Einer der Schlepper erklärte einem der Flüchtlinge, in welche Richtung er steuern sollte. Danach sprang er ins Wasser und schwamm im Dunkeln zurück an Land. Dann waren wir auf uns alleine gestellt. Keiner von uns hatte je ein Boot gelenkt. Wir starrten einander verdutzt an. "Fahren Sie weiter, bis Sie das Licht dort erreichen", sagte er, bevor er ins Meer sprang, und zeigte auf ein schwaches Licht, das für unser Gespür viel zu weit weg war. Dennoch löste es einen Hoffnungsschimmer in jedem von uns aus.

Der Motor unseres Schlauchbootes gab den Geist auf, und die Wellen schlugen gegen die Seiten. Das dunkle Meer war bedrohlich. Unter uns befand sich ein Maschinenbauingenieur, ein weiterer syrischer Flüchtling. Während er am Motor herumwerkte, wuchs sichtlich die Angst unter den Männern. Eine Frau begann zu weinen, ihre beiden Kinder schrien unaufhaltsam. Wir waren alle zu Tode erschrocken. Nach einer gefühlten Ewigkeit schaffte er es, den Motor neu zu starten und das Boot Richtung Küste zu lenken.

Unsichere Reise

Ich lebte auf dem Golan in Syrien, habe einen Abschluss in Rechtswissenschaften, entschied mich aber für eine Arbeit im humanitären Bereich. Einige Jahre arbeitete ich bei einer Hilfsorganisation in Damaskus, die Bedürftigen Hilfe leistete. Daran, dass ich selbst einmal ein Flüchtling in Not werden würde, dachte ich nie.

Als ich vor einem Jahr in Wien ankam, hatte ich eine schreckliche 40-tägige Reise hinter mir, von einem Schlepper an den nächsten weitergereicht – nie sicher, wo ich die nächste Nacht verbringen würde. Ich bin ursprünglich vor dem Krieg in Syrien nach Jordanien geflohen, wo ich acht Monate verbracht habe. Von dort bin ich weggegangen, weil es keine Arbeitsmöglichkeiten gab und ich für meine Familie nicht sorgen konnte. Von Jordanien floh ich in die Türkei, wo wir über schlechte Nebenstraßen fuhren, zeitweise Stunden zu Fuß gingen oder in kleine Fahrzeuge gezwängt wurden, die für eine so große Zahl an Menschen nicht konzipiert waren.

Unzählige Demütigungen

Tag für Tag, als wir Grenzen passierten und uns im fremden Gebieten aufhielten, erlitt ich unzählige Demütigungen: Festnahmen, alle Arten von unmenschlicher Behandlung. Für dieses Privileg bezahlte ich, was von meinen Ersparnissen übrig blieb, 7.500 US-Dollar, auf mehrere Schlepper verteilt. Das entspricht etwa 20 One-Way-Tickets für einen vierstündigen Direktflug Amman – Wien. Trotz allem habe ich diese Reise über das Meer, das anhaltend die Körper von so vielen weniger Glücklichen verschlingt, überlebt.

Bevor wir geheiratet haben, war meine Frau Waad freiwillige Mitarbeiterin der internationalen Hilfsorganisation Care in Jordanien, die dort syrischen Flüchtlingen hilft. Waad wollte ursprünglich Lehrerin werden und studierte ein Jahr an der Universität von Damaskus. Sie musste das Studium abbrechen, als der Krieg ausbrach. So wurde sie zum Flüchtling. Sie floh im Jänner 2013 mit ihrer Familie von Syrien nach Jordanien, als die vernichtenden Fassbomben ihre Nachbarschaft erreichten. Der einzig sichere Ort in ihrem Haus war das Badezimmer, wo sie viele Tage versteckt zubrachten.

Bessere Zukunft

Wir waren verliebt, und ich erinnere mich, wie wir über unsere gemeinsame Zukunft sprachen. Ich war entschlossen, sie zu heiraten, bevor ich mich auf diese gefährliche Reise begab. Ohne Beschäftigung, ständig beim Versuch, die Kosten für Essen und Miete aufzutreiben, war unsere finanzielle Situation schwierig. Durch Freunde, die noch in Syrien waren, konnte ich mit hohem Verlust das Haus verkaufen, von dem wir geträumt hatten, dort eines Tages zu leben. Es schien nicht so, dass wir bald zurückkehren könnten. Jetzt leben wir zusammen mit unserem fünf Monate alten Sohn Hazem in Wien. Wir hoffen, dass er hier bessere Bildungschancen hat, dass eine bessere Zukunft auf ihn wartet als in einem vom Krieg zerrissenen Syrien oder als Flüchtling.

Seitdem wir unser neues Leben in Österreich begonnen haben, glauben wir wieder an die Zukunft. Waad will ihre Hochschulausbildung abschließen und Flüchtlingen helfen, die in Europa ankommen. Was mich betrifft: Ich hoffe, dass die Welt erkennt, wie verzweifelt die Flüchtlinge sind, wenn sie knapp dem Tod in Syrien entronnen unter Todesgefahr den Weg über das raue Meer wagen.

Ich appelliere an die Mächtigen dieser Welt, dass sie die Siedlungsprogramme für Flüchtlinge in Drittstaaten unterstützen, dass sie sich für sichere Routen einsetzen und die Rechte der Flüchtenden in allen Ländern schützen. Aber das sind alles nur Zwischenlösungen, sicherlich hilfreich, aber wir brauchen mehr. An oberster Stelle steht der Wunsch nach einer Lösung, die das syrische Volk vom anhaltenden Elend befreit: die uns dabei hilft, in ein sicheres Syrien zurückzukehren. (Rasheed al Raschid, 23.9.2015)