
Hanni Rützler: "Alle größeren Städte haben ihre eigenen Food-Kathedralen."
STANDARD: Es gibt heute mehr unterschiedliche Ernährungsarten denn je. Wie interpretieren Sie diese Entwicklung?
Hanni Rützler: Essen ist um die Jahrtausendwende aus der Norm gerutscht. Man hat gemerkt, dass sich der Wandel der Arbeitswelt auf das Essen auswirkt. Die neue Generation ist im Lebensmittelüberfluss aufgewachsen und sucht jetzt wieder aktiv nach einem lösungsorientierten Umgang mit Nahrung. Man besinnt sich auch wieder der Nähe zum Produkt. Viele Menschen wissen nicht mehr, wie Tiere leben oder Gemüse wächst. Dieses Wissen müssen wir uns wieder langsam erarbeiten.
STANDARD: Aber wir haben doch heute viel mehr Informationen als noch vor einigen Jahren?
Rützler: Wir haben zwar sehr viel Neues über Nährwerte gelernt – gleichzeitig ist aber viel Traditionswissen verlorengegangen. Es sind ganz einfache Dinge, die wir heute nicht mehr wissen: welche Fleischstücke wie zubereitet werden, wie man Frische erkennt oder welche Früchte nachreifen.
STANDARD: "Free-from-Produkte" sind sehr populär im Moment. Wie sehen Sie diesen Trend?
Rützler: Ich muss ein bisschen schmunzeln, wenn ich Produkte sehe, bei denen ich nur weiß, was nicht drin ist. Da muss man sich dann schon die Frage stellen: Was ist denn eigentlich drin, und was isst man da?
STANDARD: Na ja, es gibt ja viele Menschen mit Lebensmittelunverträglichkeiten.
Rützler: Dass man auf Unverträglichkeiten Rücksicht nimmt, gehört natürlich dazu, auch wenn nur sehr wenige Menschen davon betroffen sind. Ich habe aber oft den Eindruck, dass das auch ein Versuch ist, mit der Lebensmittelvielfalt umzugehen. Wenn ich zum Beispiel nur vegan esse, fallen einfach viele Auswahlmöglichkeiten weg, und ich muss mir nicht so viele Gedanken machen.
STANDARD: Veganismus ist im Moment sehr angesagt. Attila Hildmann bringt im November sein nächstes Buch raus und verkauft neuerdings auch Spiralschneider und Matcha-Tee. Wird der vegane Trend massentauglich?
Rützler: Gerade bei der veganen Bewegung sieht man, dass es einen fundamentalistischen Kern gibt. Es gibt aber auch viele, die das nicht so religiös betreiben und einfach auf tierische Produkte verzichten. Ich denke, dass in Zukunft viele neue Rezepte und Gerichte ohne tierische Lebensmittel auskommen werden.
STANDARD: Wird Essen nicht gerade in vielen Bereichen zur neuen Religion?
Rützler: Essen ist auf jeden Fall ein urbanes Lifestlye-Thema geworden. Alle größeren Städte haben ihre eigenen Food-Kathedralen. Das sind in den meisten Fällen offene Märkte oder Markthallen. Wenn man sich die Szene anschaut, hat man das Gefühl, das sind jene Menschen, die noch vor zehn Jahren bei Ausstellungen und Theaterabenden waren und sich jetzt über Essen unterhalten.
STANDARD: Wie entstehen Food-Trends?
Rützler: Trends zu machen ist ziemlich schwierig und sehr teuer. Es gibt gewisse Insiderszenen, die Lobbying für spannende Themen betreiben. Das funktioniert natürlich nur, wenn die kritische Masse mitmacht. Food-Trends sind die Antworten auf aktuelle Herausforderungen. Wenn in den letzten Monaten über Moral gesprochen wurde, hat man das oft am Thema Essen aufgehängt. (Alex Stranig, RONDO, 25.9.2015)