Zurückgekehrt von einem Forschungsaufenthalt in Kolumbien, scheint man ein verändertes Österreich vorzufinden. Es hat sich eine fantastische Welle der Solidarität entwickelt. Viele Menschen und Hilfsorganisationen zeigen, dass sie das zögerliche Agieren des Staates in dieser dramatischen Situation nicht akzeptieren wollen. Europa schafft sich ein Stück "von unten". Andernorts zeigt sich dieses Europa von seiner unschönen Seite.
Nach der mutigen Ansage "Das schaffen wir" führte Berlin wieder Grenzkontrollen ein. Damit muss sich Österreich darauf vorbereiten, dass viele Menschen hierbleiben werden. Die gesellschaftliche Stimmung scheint dem nicht entgegenzustehen. Bisher. Doch das kann kippen.
Die europäische wie die österreichische Politik, aber auch Verbände und Öffentlichkeit sollten nun weitsichtig agieren. Es geht darum, die zivilgesellschaftliche Unterstützung zu erhalten und die staatliche zu intensivieren. Ernsthafte Friedensbemühungen sind in Syrien und anderswo notwendig, Flüchtlingspolitik muss sich europäisieren. Die Dublin-Abkommen, welche die Bürde jenen Ländern aufladen, in denen die Flüchtlinge zuerst ankommen, müssen verändert werden. Vor allem ist der Bevölkerung die Angst vor der Zukunft zu nehmen.
Sehr viele Menschen fliehen vor Krieg und Bürgerkrieg nach Europa, aber auch vor der brutalen Gewalt dauerhafter Armut und Perspektivlosigkeit. Der Irakkrieg war auch ein Krieg um Öl, der damals wie heute Menschen in die Flucht schlägt und eine lebenswerte Zukunft auf absehbare Zeit unmöglich macht. Die aktuell nach Europa kommenden Flüchtlinge könnten uns zu einem Umdenken bringen. Wir haben längst die Einsicht, dass unsere energie- und ressourcenintensive Produktions- und Lebensweise auf Ressourcenausbeutung, Gewalt und Flucht in anderen Ländern basiert und dass sie unsolidarisch ist. Dass sie das Klima aufheizt und die Zahl der Umweltflüchtlinge vergrößern wird.
Eine produktivistische und konsumistische Gesellschaft, die sich bislang kaum dafür interessierte, woher die Ressourcen kommen, würde sich aufrütteln. Eine Gesellschaft könnte umdenken, für die die Kriege im Nahen Osten oder die auch durch Interventionen des Westens massiv destabilisierte Ukraine nichts mit "uns" zu tun hatten.
Wir wissen nicht, wie viele Flüchtlinge hierbleiben werden. Das hängt vor allem mit der Lage in den Herkunftsländern zusammen. Dann stellt sich die Frage: Welche Maßnahmen der Stabilisierung des Alltags der Menschen und ihrer Integration sind sinnvoll, und wie kommt der Staat hier seiner Verantwortung nach?
Doch dazu muss sich unsere selbst Gesellschaft verändern. Klar, sie muss toleranter werden. Sie muss den ankommenden Menschen aber auch Lebens- und Arbeitschancen geben. Es stellt sich die Frage einer guten, solidarischen und ökologisch nachhaltigen Zukunft hier und in anderen Teilen der Welt.
Konkrete Flüchtlingspolitik heute bedeutet eine zukunftsfähige Gesellschaftspolitik.
Kluge Politik heute könnte bedeuten, die Arbeitszeit zu verkürzen, damit mittelfristig mehr Menschen entsprechend qualifiziert werden und ein auskömmliches Leben haben. Da müssten die Kammern, Verbände und Unternehmen mitmachen. Die Erste Bank hat eine lobenswerte Initiative gestartet, indem sich die Mitarbeiter während eines Teils ihrer Arbeitszeit für Flüchtlinge engagieren können. Das Rektorat meiner Universität hat angeboten, dass Mitarbeiter zwei Tage Sonderurlaub nehmen können, um die Flüchtlingshilfe zu unterstützen. Ein nächster Schritt könnte sein, mittelfristig vermehrt Ausbildungs- und Arbeitsplätze für die ankommenden Menschen zu schaffen und eben die Arbeitszeit zu verkürzen. Die Hochschulen könnten unkompliziert Lehrangebote schaffen.
Diese Wochen zeigen, dass die Abkehr von Produktivismus und Konsumismus, von der Ideologie des "Kauf dich glücklich" und die Hinwendung zur solidarischen Unterstützung anderer Menschen durchaus denkbar sind. Umbau der Lebensweise heißt etwa: Eine Kultur des Nutzens und Teilens von Gegenständen ersetzt die aktuelle Kultur des Habens und Habenwollens. Es werden weniger kurzlebige Güter produziert und weniger Ressourcen am Weltmarkt nachgefragt. Mehr Mittel stehen der Gesellschaft zur Verfügung, damit alle ein auskömmliches Leben haben.
Das erfreulich große Aufkommen von Kleiderspenden an Haupt- und Westbahnhof in Wien zeigt aber auch, dass in bestimmten Situationen Menschen bereit sind zu teilen. Und die vielen Freiwilligen dementieren das falsche Bild von den individualisierten Menschen, die nur auf ihren materiellen Vorteil blicken.
Vielleicht bringt dieser Sommer nach dem Desaster der europäischen Politik in Griechenland und im Zeichen der vielen Flüchtlinge die Politik zum Umdenken. Von der Gesellschaft, so scheint es derzeit, würden weitreichende Veränderungen, damit die Flüchtlinge hier leben können, akzeptiert werden. Doch wir müssen uns selbst viel grundlegender ändern, als wir bisher eingestehen. Das könnte dafür genutzt werden, unsere Produktions- und Lebensweise so umzubauen, dass sie nicht mehr die Lebensverhältnisse in anderen Regionen gefährdet, dass sie für alle Menschen hier attraktiv ist. (Ulrich Brand, 23.9.2015)