Wien – Weltweit sind heute 125 Millionen Frauen und Mädchen beschnitten. Schmerzen, körperliche und psychische Probleme bis hin zum Tod sind mögliche Folgen dieser grausamen Praxis. Entwicklungshelfer bekämpfen die Genitalverstümmelung, schätzen laut Forschern um den Österreicher Ernst Fehr die Hintergründe aber oft falsch ein. Sie geschehe eher aus privater Überzeugung, nicht wegen sozialer Normen, schreiben die Forscher im Fachblatt "Science".

Wären soziale Normen der Hauptgrund, dann würde die Mädchenbeschneidung in manchen Gebieten universell angewendet und in anderen komplett verpönt sein, so die Forscher. Ein spieltheoretisches Modell, das auf einer solchen Annahme basiert, zeigt, dass es dann quasi nur Extremwerte gäbe, wo in einer Gemeinschaft fast alle oder fast keine Mädchen beschnitten wären.

Wenn nämlich die meisten Eltern aufgrund einer Konvention die äußeren Genitalien ihre Töchter entfernen lassen und zugleich die Männer solche Ehefrauen erwarten, sei der Druck groß, die Mädchen beschneiden zu lassen, um sie verheiraten zu können. Sind aber die meisten Frauen unbeschnitten und wird dies auch nicht als Ehe-Voraussetzung verlangt, wären mögliche "Vorteile" der Beschneidung gegenüber den Gesundheitsrisiken minimal und sie würde in der Regel ausbleiben.

Beschneidungsverhalten äußerst variabel

"Nach dieser Theorie, die wir in unserer Arbeit stark kritisieren, gäbe es eine kritische Schwelle, wie viele Prozent der Bevölkerung beschneiden", erklärte Fehr, der am Institut für Volkswirtschaftslehre der Universität Zürich forscht. Wenn man diese unterschreitet, müsste sich in einem solchen Fall das Problem quasi von selbst lösen. Doch damit könne man nicht rechnen, denn solch eine kritische Schwelle existiert vermutlich bloß in der Theorie. Nach den Untersuchungen der Forscher in 45 Gemeinden im Sudan ist nämlich das Beschneidungsverhalten äußerst variabel und sehr oft mittelmäßig verbreitet.

Die Wissenschafter hatten Fotografen in 45 Volksschulen im sudanesischen Teilstaat al-Dchazira geschickt, um die Füße der Mädchen an den ersten Schultagen zu knipsen. Denn die Beschneidung erfolgt oft in den Sommerferien und nach der lokalen Tradition bekommen die Mädchen dann (und nur dann) Henna auf die Füße aufgetragen. Reste davon bleiben an den Zehennägeln mehrere Wochen sichtbar. Sie dienten als Evidenz, um diskret und kulturell angemessen die Beschneidungsraten zu ermitteln. Nebenher fragten Mediziner die Mädchen, ob sie "gereinigt" worden sind – was in dieser Region eine unverfängliche, aber eindeutige Umschreibung für die Beschneidung sei.

"Abgesehen von einer einzigen Gemeinschaft mit einer Beschneidungsrate von geschätzten 100 Prozent war sie nirgendwo extrem hoch oder niedrig", schreiben die Forscher in dem Artikel. Der Höhe nach aufgetragen, würden dann die Beschneidungsraten einen kontinuierlichen Verlauf und keinen sprunghaften Anstieg zeigen. Letzteres wäre aber zu erwarten, wenn die Familien sich anhand sozialer Normen koordinierten.

Private Gründe ausschlaggebend

"Die Familien beschneiden daher eher aus privaten Gründen und weniger, weil sie sich mit anderen abstimmen möchten", so die Wissenschafter in einer Aussendung der Universität Zürich. Diese Erkenntnis würde den weltweiten Ansatz von Entwicklungsorganisationen infrage stellen, Mädchenbeschneidungen mittels Kundgebungen zu bekämpfen, wo Familien sich öffentlich dagegen aussprechen. "Dabei laufen sie Gefahr, einfach jene Familien zu versammeln, die bereits dazu neigen, auf Beschneidung zu verzichten", erklärte Fehrs Kollegin Sonja Vogt. Die anderen Familien würde man damit aber nicht erreichen.

Jährlich würden mehrere Millionen Dollar in solche Programme gegen die Mädchenbeschneidung investiert, doch noch niemand habe klare Daten vorgelegt, dass die Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung die Charakteristika einer koordinierten, sozialen Norm aufweist, kritisieren die Forscher. Andere Taktiken seien womöglich effektiver – etwa indem man das Nicht-Beschneiden finanziell unterstützt und seine Vorteile kommuniziert. (APA/red, 24.9.2015)