Reges Leben unter der Meeresoberfläche: Was hier krabbelt, ist eine Garnele auf einer Braunalge.

Foto: Geir Johnsen (NTNU)

Forschungsstation Spitzbergen: Ein alltäglicher Blick während der vier Monate dauernden Polarnacht.

Foto: Geir Johnsen (NTNU)

Tromsø/Wien – Spitzbergen ist fürwahr kein Platz für Sonnenanbeter. Im Sommer ist die zu Norwegen gehörende Inselgruppe im Arktischen Ozean – Augenzeugenberichten zufolge – häufig wolkenverhangen, im Winter herrscht hier die Polarnacht vor. Auf der Höhe von Kongsfjorden im Nordwesten der größten Insel der Gruppe, in 79 Grad nördlicher Breite, dauert sie fast vier Monate an. Während dieser Zeit gibt es kein natürliches Licht außer durch den Mond, durch Sterne und durch den Schnee. Die Sonne schafft es in dieser Zeit nicht über den Horizont, weil der geografische Nordpol von ihr abgewandt ist.

Bisher haben Wissenschafter angenommen, dass die Natur in dieser Phase ihre "biologischen Aktivitäten" weitgehend herunterfährt. Man wusste von einigen Tieren im und rund um den Arktischen Ozean, die nicht in sonnenreichere Regionen wandern, und dachte, hier sonst kein Leben mehr zu finden. Das widerlegte nun ein Wissenschafterteam unter der Leitung des norwegischen Meeresbiologen und Arktisforschers Jørgen Berge von der Arctic University in Tromsø.

Nächte voller Leben

Die Forscher waren in drei aufeinanderfolgenden Jahren (2013 bis 2015) jeweils für einen Monat auf der Inselgruppe. Und publizierten nun im Fachmagazin "Current Biology" das sehr erstaunliche Ergebnis ihrer Arbeit: Die Nacht ist voller Leben. Berge staunt bis heute darüber. "Wenn Sie mich fragen, wie viele Vogelarten wir sahen, kann ich es gerade noch beziffern und sechs sagen. Wenn Sie mich aber fragen, wie viele Arten wir insgesamt sahen, dann muss ich wohl unzählige zur Antwort geben", sagt er zum STANDARD.

Berge und sein Team waren vor allem von den Meeresvögeln begeistert. Kongsfjorden beheimatet große Kolonien dieser Tiere, von denen aber viele nach dem Sommer Spitzbergen verlassen. Ursprünglich wusste man nur, dass das Schneehuhn in der Polarnacht auf der Inselgruppe bleibt. Heute ist klar, dass das Tier nicht der einzige Nachtvogel so weit nördlich ist. Das Forscherteam entdeckte auch Dreizehenmöwe, Krabbentaucher und den nördlichen Eissturmvogel. Die Vögel ernährten sich unter anderem von shrimpsartigen Krebstieren und von Fischen.

"Es war schon ziemlich überraschend, dass mehrere Arten in dieser Region anzutreffen sind. Aber sensationell erschien uns, dass sie in der totalen Finsternis auch ihr Futter finden", sagt der Wissenschafter voller Bewunderung – und gesteht. "Wir wissen nicht, wie sie das machen, wir wissen auch nicht, wie üblich es unter ihnen ist, dass sie her überwintern. Wir wissen nur, dass sie es tun."

Berge hat Sinn für Romantik und erzählt von einer Bootsfahrt im Fjord. "Es war finster, wir saßen in einem kleinen Boot, und unter uns tat sich plötzlich ein Kosmos von sich bewegenden blau-grünen Lichtern auf." Es handelte sich dabei um Organismen, die zur Biolumineszenz fähig waren. Mehrere Einzeller, die Licht erzeugen konnten, in dieser Umgebung zu sehen war für ihn "der eindrucksvollste und wahrscheinlich entscheidendste Moment während unserer Arbeit". Erst danach entschieden die Forscher, die Artenvielfalt mittels Langzeitstudie zu beobachten.

Aktive Community

Die Wissenschafter sahen Ruderflusskrebse und anderes Zooplankton, sowie das kontinuierliche Wachstum von Jakobsmuscheln. Mit einer Zeitrafferkamera und mit Köder beobachteten sie eine höchst aktive Community auf dem Meeresboden – zum Beispiel Schnecken und Krabben. "Von einem Ökosystem im Ruhezustand konnte also wirklich keine Rede sein", sagt Berge. Letztlich soll das Polarnacht-Projekt, das bis 2016 laufen wird, auch helfen, die Folgen der Klimaerwärmung für das Leben im Arktischen Ozean besser zu verstehen.

In einem von den Forschern publizierten Katalog zur Polarnacht kann man lesen: "Um zu verstehen, welche Folgen die Klimaerwärmung auf Organismen hat, müssen wir begreifen, wie sich die Tiere auf das ganzjährige Leben in dieser Region eingestellt haben. Und warum sie hier nicht nur im Licht leben können." Berge ergänzt und beschreibt die nächsten Schritte: "Jetzt, da wir wissen, dass es in der Polarnacht gar nicht ruhig ist, müssen wir diese Lebensprozesse sichtbar machen, um sie auch kontrollieren zu können." Es geht um die Artenvielfalt. (Peter Illetschko, 25.9.2015)