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Die Linke in Großbritannien ist an einer Weggabelung angelangt. Noch beobachten der neue Labour-Chef Jeremy Corbyn und die meisten Abgeordneten seiner Partei einander mit Argwohn.

Foto: Reuters / Toby Melville

Mit ihrem neuen Parteichef Jeremy Corbyn sei es wie mit einem Computer, findet die Politikerin Angela Eagle. "Wenn man Neustart anklickt, weiß man nie genau, ob das ein Problem löst oder ob es nachher genauso schlimm ist wie vorher." Das klingt nicht gerade nach einem Vertrauensvotum. Tatsächlich gehört die wirtschaftspolitische Sprecherin Eagle zu den 90 Prozent der Labour-Unterhausabgeordneten, die Corbyn nicht als Vorsitzenden haben wollten. Damit stehen sie im Widerspruch zur überwältigenden Mehrheit der Mitglieder und Sympathisanten.

Für Zündstoff war also reichlich gesorgt, als sich die britischen Sozialdemokraten am Sonntag zu ihrem Jahrestreffen versammelten. Im südenglischen Brighton versucht die 115 Jahre alte Partei unter ihrem neuen Chef Jeremy Corbyn (66) einen Neuanfang, von dem noch niemand weiß, wohin er führen soll. Das Motto könnte lauten: Alles ist anders. Tausende von Aktivisten, Parlamentariern und Journalisten werden bis Mittwoch damit beschäftigt sein, einander kennenzulernen und nach neuen Wegen zu suchen.

Vielen ist der neue Chef noch recht fremd. Er sei "noch dabei, Jeremy kennenzulernen", hat Partei-Vize Tom Watson dem Labour-nahen Magazin New Statesman anvertraut. Dabei gehört Watson dem Unterhaus seit 2001 an, Corbyn vertritt seinen Nordlondoner Wahlkreis Islington dort sogar schon seit 1983. Aber der radfahrende Vegetarier und Alkohol-Abstinenzler blieb in all den Jahren ein Einzelgänger, bekannt höchstens in den Zirkeln am äußersten linken Flügel der Partei, die stets in Opposition standen – zu den Brachialreformen der Tory-Premierministerin Margaret Thatcher ebenso wie zu Tony Blairs New Labour.

Neue Mitglieder

Nun muss Corbyn die loyale Opposition Ihrer Majestät führen, was in den vergangenen vierzehn Tagen mal besser, mal schlechter geklappt hat. In Interviews verweist er stolz auf das Mandat von gut 250.000 Stimmen, mehr, als jeder Parteichef in der britischen Geschichte je verbuchen konnte. Nach der schweren Niederlage bei der Unterhauswahl im Mai hatte Labour bereits zehntausende neue Mitglieder gewonnen. Seit Corbyns Kür haben weitere 62.000 ihren Beitritt erklärt. "Allein in meinem Bezirk sind 1000 dazugekommen, die meisten unter 30", freut sich Tulip Siddip, die das Londoner Armenviertel Kilburn und die Intellektuellenhochburg Hampstead im Unterhaus vertritt. Kein Zweifel: Gerade in der Hauptstadt hat Corbyn junge Leute und desillusionierte Abtrünnige gleichermaßen begeistert und für die Partei (zurück)gewonnen. "Wir müssen uns jetzt anstrengen, sie in die tägliche Arbeit einzubeziehen", mahnt der Südlondoner Aktivist John Biggins.

Ob das gelingt? Schon gibt es in den sozialen Netzwerken heftiges Murren über Frontbegradigungen der neuen Parteiführung. So ist Corbyn unter dem Druck der Fraktion von seiner alten Forderung nach Großbritanniens Austritt aus der Nato ebenso abgerückt wie von seiner EU-feindlichen Haltung. Und er hat gelobt, künftig bei offiziellen Anlässen brav die Nationalhymne God Save the Queen zu singen, aller Monarchieskepsis zum Trotz.

Unerwarteter Beifall

An seiner Fundamentalkritik an der Sparpolitik der Tories und den harten Einschnitten für sozial Bedürftige aber hält Corbyn eisern fest – und erhält dafür Beifall von überraschender Seite. Angesichts der derzeitigen Niedrigstzinsen seien staatliche Infrastrukturinvestitionen auf Pump, wie von Corbyn propagiert, "gar nicht so verrückt, wie alle behaupten", findet der anerkannte Finanzjournalist Anthony Hilton. Derzeit stimme das Timing nicht, grundsätzlich aber sei solcherlei Keynesianismus "sehr respektabel", glaubt auch Paul Marshall vom Hedgefonds Marshall Wace.

Mit konsequenter Kritik an der wachsenden sozialen Ungerechtigkeit könnte der überzeugte Pazifist Corbyn womöglich die ganze Partei hinter sich bringen. Das wäre vielleicht noch kein Neuanfang, aber immerhin ein tragfähiger Waffenstillstand zwischen linksgerichteten Aktivisten und pragmatisch orientierter Fraktion. (Sebastian Borger aus London, 27.9.2015)