Johannes Silberschneider beim Tritt durch den Glitzervorhang.

Foto: Wolfgang Silveri

Graz – Am Anfang war Buddy Holly. "Well, that'll be the day, when you say goodbye", singt Johannes Silberschneider ins Halbdunkel in der Helmut-List-Halle, wo schon die 22 Musiker des Ensemble Modern Platz genommen haben. Über ihnen flimmern Filme auf Projektionsflächen, die aussehen wie riesenhafte Gedankensplitter, schwarz-weiße Bilder von würfelnden Frauen und leeren, nächtlichen Alleen. Ein Satz flimmert vorbei und verspricht, dass die Tür ins Unbekannte geöffnet wird. Es ist eine Kindheit in Kärnten, in die man poetisch eintaucht.

Und wüsste man nicht, dass es jene des Dichters Josef Winkler ist, würde es der Text, den Silberschneider in den nächsten eineinhalb Stunden intensiv, lustig, traurig und zornig vorträgt, nach wenigen Sätzen verraten: "Löschpapier und Tintentod!" Wasser, Kreide, Tinte und Blut werden zu einem Elixier vermischt, in dem Erinnerungen und Vorahnungen wie Fettaugen in einer Suppe nebeneinander herschwimmen.

Specter of the Gardenia oder Der Tag wird kommen ist das kongeniale Auftragswerk des Steirischen Herbstes, mit dem das Festival am Freitagabend in der Listhalle eröffnet wurde. Winkler schrieb den Text und der Komponist Johannes Maria Staud ein starkes, oft düsteres Stück Musik, in dem die Streicher alarmierend aufschreien. Wenn man so will, sind die Klänge die gehaltvolle Suppe, in der die Fettaugen Winklers unter der Leitung von Dirigent Emilio Pomàrico treiben.

Kreide, Tinte und Blut

Der Stückname ist der einer schwarzen Frauenbüste, deren Augen von Reißverschlüssen verschlossen sind, während sie eine gelochte Filmrolle um den Hals trägt. Die Arbeit des Künstlers Marcel Jean von 1936 hat Winkler inspiriert. Auf der Bühne ist das große Auge, durch das Silberschneider geht, von einem glitzernden Vorhang verhängt. Winkler öffnet im Text die Reißverschlüsse und findet in den Augäpfeln etwa "ein speichelbenetztes, zu Boden fallendes Brotbröckchen", das seine Mutter dem Kleinkind herausgeschüttelt hat, weil es sonst erstickt wäre. Zwischen solchen und weniger dramatischen Szenen eines Lebens entwickelt die Sprache ihren Rhythmus: Mit "frisch geschliffenen Kufen meiner Schlittschuhe schreib ich deinen Namen auf das durchsichtige Spiegeleis des Weißensees" ... oder "in die Luftlöcher des väterlichen Totenkopfes schreib ich deinen Namen".

Es ist ein komplexes, schönes, manchmal auch schrilles Werk, mit dem das Festival heuer eröffnet wurde und an dem die wunderbaren Musiker und ein einfühlsamer, uneitler Schauspieler großen Anteil haben.

"Wer einfache Lösungen parat hat, etwa meint, dass das Errichten von Zäunen, die Perfektionierung der Festung Europa, das Verharren im vermeintlich Eigenen liegen, hat sich weder mit Geschichte auseinandergesetzt noch mit zukunftsfähigen Visionen. Und schon gar nicht mit Kunst", sagte vor der Uraufführung Intendantin des Festivals Veronica Kaup-Hasler in ihrer Eröffnungsrede. Das Festival, das bis 18. Oktober 150 Produktionen zeigt, öffnet seine Veranstaltungen heuer kostenlos für Flüchtlinge. (Colette M. Schmidt, 27.9.2015)