Evi Kehrstephan als rechnendes "Milchmädchen" und Sebastian Klein als der "Herr Knecht", der Wirtschaftsleere (sic!) studiert hat.

Wien – Erst war da nichts. Dann kam die Fabrik, und um sie siedelte ein Dorf, es gab nun Arbeit und Wohlstand. Doch dann war alles wieder dahin. So weit die Ausgangslage zu Ulf Schmidts Der Marienthaler Dachs. Bezugnehmend auf die 1933 durchgeführte Sozialstudie "Die Arbeitslosen von Marienthal" über das Leben in einem wirtschaftlich darniederliegenden österreichischen Dorf, ist Schmidts 2012 verfasster Abgesang auf das kapitalistische Lohnarbeitsmodell eine (menschliche) Erschöpfungsgeschichte.

Schauplatz der sozialen Kämpfe zwischen vermeintlichen Leistern und Nichtleistern (von Teresa Grosser in Blaumann-Variationen gewandet) ist die von marienthalischen Manner-Lettern überprangte, in Manner-Rosa getünchte Drehbühne (Carola Reuther). "Lieber eine Untat als untätig!" und "Ihr seid euer Rohstoff!" werden hier Glaubenssätze des Wirtschaftsliberalismus und der Selbstoptimierung deklamiert.

Dem Geiz-ist-geil-etc.-Gegner geschuldet, sind Schmidts Figuren notwendig laute, mitunter schrille Sprachrohre eines antikapitalistischen Programms. Sie sind keine Charaktere zum Einfühlen, sondern zur Beobachtung von außen gedacht. Sprechende Namen offenbaren sie als Allegorien und verweisen auf das Größere im Kleinen u.a. der vermeintlich familiären Tischszene aus "Vater Staat", "Mutter Konzern", der konsumgeilen "Tochter Gesellschaft" und dem unmündigen Milchbaby "Kleiner Mann".

Doppeldeutigkeiten sind die treibende Kraft hinter diesem (auch ideologisch) jelinekesken Sprachwerk. Das ergibt neben viel Wortwitz auch ein paar Kalauer, geht aber nie auf Kosten des Sinns. Die Verwechslungsnotwendigkeit von "geschäftlich" und "geschlechtlich" etwa drängt sich ja quasi schon in der Idee vom Humankapital auf!

Arbeitslosenchor

Vom Autor als begehbare Theaterinstallation erdacht, hat Regisseur Volker Lösch den Text für die Guckkastenbühne im Volkstheater "analogisiert" und zur Steigerung der Aktualität um einen Chor aus 20 Wiener Arbeitslosen erweitert. Im Wechsel mit dem 17-köpfigen, stark besetzten Schauspielerensemble werden die von Kündigung, Arbeitsamt, Autonomieverlust und sozialem Abstieg erzählenden Erwerbslosigkeitsbiografien der Laiendarsteller (die AK Wien unterstützt das Projekt) zum beglaubigenden, bekräftigenden Faktor der zugespitzten und ansonsten vielleicht etwas einseitig daherkommenden Dialogtexte. Denn natürlich macht es sich das parabelhafte Stück etwas einfach damit, die Konzerne u.ä. zu den Bösen zu machen. Aber sind die berichteten Erlebnisse der Arbeitslosen nicht oft noch perfider?

Aus der unmittelbaren Wucht ihrer Sprechchöre entwickelt sich jedenfalls eine Wut, die in der Zuspitzung der dramatischen Entwicklungen ihre Entsprechung findet. Die "Scheißthalsperre" birst zwar nicht, doch gibt es auch sonst genug Konfliktträchtiges. Zusammenbrechende Sitzbänke (bzw. Banken) und soziale Gefüge etwa. Oder "Andi Arbeit", den Sündenbock. Gemeinschaftssinn statt Einzelkämpfertum will er den Marienthalern bringen, doch die haben ja schon ihren Propheten: den titelgebenden Dachs.

Wirtschafts-"Piefkesaga"

Kein Schelm, der dabei an die Abkürzung des Deutschen Aktienindex denkt. Er ist die Götze der Marienthaler, wie Orgasmen durchzucken seine Orakelsprüche den Körper seines Mediums, wenn sich die Geldgläubigen zum Hochamt vor dem Dachsbau versammeln. Als dieser einstürzt und sich als leer herausstellt, mag das keiner glauben. Ratlosigkeit.

In gewagter Direktheit wendet sich der Chor zum Abschluss noch einmal an das Publikum. "Nichts wert" sei nicht der arbeitslose Mensch, sondern die feindselige Politik der FPÖ, mahnt er von der Rampe aus in den Saal.

Lösch hat mit seiner Inszenierung der sprachgewaltigen Vorlage eine Art Wirtschafts-Piefkesaga auf die Bühne gebracht. Laut, grell und nervös, ist der Abend eine dreieinhalbstündige, fordernde Anklage. Nach der Pause blieben manche Sitze leer. Zu Unrecht. (Michael Wurmitzer, 27.9.2015)