Wien – Ein herausforderndes Projekt zum Einstand der neuen Saison hat sich am Wochenende das Tanzquartier Wien einfallen lassen. Titel: Unter Tag. Dauer: ganze 24 Stunden. Thema: Was treibt Menschen an, tagtäglich wieder und immer noch weiterzumachen, und welche Motivationen führen sie durch ihr Leben?

Für Regie und Raumgestaltung in der Museumsquartier-Halle G war das österreichische Künstlerkollektiv AO& verantwortlich. Und kein Geringerer als der experimentierfreudige Starpianist Marino Formenti faszinierte als musikalische Konstante in diesem Marathon. Rund vierzig Gäste mit ganz unterschiedlichen Berufen waren eingeladen, dem Publikum mitzuteilen, was sie antreibt.

Bereits die ersten Statements ab acht Uhr früh zeigten, dass die "Performance" der jeweiligen Aussagen aufschlussreicher sein kann als ihr Inhalt: Wer ging wie direkt auf die Frage ein, und wie wurde versucht, sich zu inszenieren? Nützlich war wohl, dass Selbstentäußerung in der Facebook-Gesellschaft als reizvolles Abenteuer gilt – was teils auch den zeitweise erstaunlichen Publikumsandrang erklärt.

Versprechen von Authentizität

Wirksam wohl auch, dass bei Unter Tag ein bestimmtes Versprechen von Authentizität im Raum stand, dessen Kurs beim Publikum offenbar seit Jahren steigt. Das Event ermöglichte jedenfalls die Live-Begegnung mit einer Wirklichkeit, wenn sie auch vermittelt und (kunst-)institutionell auf Verträglichkeit vorgetestet erschien. Das Ergebnis: Etliche der Aussagen zum eigenen Lebensantrieb – gerade auch der meisten Künstler unter den Gästen – wirkten bemüht positiv, gar bieder.

Zu den Größen des Projekts gehörten der Psychoanalytiker August Ruhs und Kurator Boris Ondreicka. Ersterer deutete auf unsere unbewussten, auch sinistren Antriebe hin, Letzterer verlas einen wuchtigen, von Referenzen durchwucherten Text über die Abgründe zwischen Theorie und Praxis. Nicht nur nette Töne schlug auch Marino Formenti an, dessen wie Kommentare oder Widerklänge zwischen einzelne Aussagen gesetzte Klavier-Statements die Atmosphäre bestimmten.

Unheimlich, so viele Ich-AGs über die Brennstoffe ihrer Existenz berichten zu hören und zu sehen, wie oft sie diese mit deren Karosserie verwechselten. Es waren 24 Stunden im Ausklang einer Periode jener forcierter Positivität, die der Philosoph Byung Chul Han seit Jahren kritisiert – am Rand des Ondreicka'schen Abgrunds, der auch zwischen den zeittypischen Motivationen "Lust" und "Kritik" existiert, wie sie etwa bei Unter Tag den Wiener Choreografen Michael Turinsky bewegten.

(Helmut Ploebst, 28.9.2015)