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Wieder mehr in Richtung EU: "Wir werden die Türkei aus dem Sumpf des Mittleren Ostens herausziehen", verspricht der türkische Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu.

Foto: Reuters / Ümit Bektas

In knapp fünf Wochen sollen die Türken erneut ein Parlament wählen. Im vergangenen Juni hatte die seit 13 Jahren regierende konservativ-islamische AKP ihre absolute Mehrheit verloren. Staatschef Tayyip Erdoğan drängte deshalb auf Neuwahlen. Es wird nichts ändern, sagt der Parteichef der Sozialdemokraten voraus. Kemal Kılıçdaroğlu war auf Wahlkampftour unter den Türken in der EU. Am Sonntag machte er Halt in Wien.

STANDARD: Wohin steuert die Türkei? Was will Erdoğan eigentlich?

Kılıçdaroğlu: Die türkische Republik erlebt jetzt eine der tiefsten Krisen ihrer Geschichte. Er will wenigstens 400 Abgeordnete für sich und ein Präsidialsystem, in dem nur er das Sagen hat. Das ist es, kurz gefasst.

STANDARD: Wie wird das nach den Neuwahlen ausschauen?

Kılıçdaroğlu: Nach den Wahlen am 7. Juni konnte er seinen Wunsch nicht erfüllen. Deswegen war er gegen die Bildung einer Koalitionsregierung und hat Neuwahlen am 1. November angesetzt. Aber was er auch unternimmt, seine Pläne werden nicht Wirklichkeit. Die Türkei wird eine gesündere Regierung bekommen. Die CHP, wir als Sozialdemokraten sind fest entschlossen, die Türkei zu einem Teil der zivilisierten Welt zu machen. Wir werden die Türkei aus dem Sumpf des Mittleren Ostens herausziehen und für den Frieden in unserer Region kämpfen.

STANDARD: Warum hat sich die CHP nicht an der Übergangsregierung beteiligt, die bis zu den Wahlen die Geschäfte führt?

Kılıçdaroğlu: Man hat uns bei den Sondierungen nach den Wahlen im Juni keine Koalition angeboten, sondern dieses Übergangskabinett für drei Monate. Das haben wir abgelehnt. Mit einer dreimonatigen Übergangsregierung lassen sich die Probleme der Türkei nicht lösen. Wir würden dann zu einer Partei werden, die diese Probleme nur vertieft. Der Sinn der Politik ist es ja, Probleme zu lösen, nicht zu vertiefen. Die Dreimonatsregierung würde außerdem nur den Interessen des Palastes dienen. ("Der Palast" ist zu einer Umschreibung für den Machtapparat von Staatschef Erdoğan geworden, Anmerkung)

STANDARD: Wie viel Spielraum hat eigentlich Ahmet Davutoğlu, der Premier des Präsidenten und sein Nachfolger an der Spitze der AKP?

Kılıçdaroğlu: Von einem Freiraum kann man bei Herrn Davutoğlu nicht sprechen.

STANDARD: Wie liefen die Koalitionsgespräche im Juli und August? War es Davutoğlu ernst damit?

Kılıçdaroğlu: Die Gespräche waren ausführlich und tiefgehend, aber sie wurden nicht mit dem Ziel einer Koalitionsbildung geführt. Die andere Seite war mehr daran interessiert, die Haltung der CHP zu bestimmten Punkten zu erfahren – zu Wirtschaftsfragen, zur Außenpolitik, der Bildungspolitik. Die Verhandlungen waren am Ende auf zehn Tage begrenzt.

STANDARD: Das politische Klima in der Türkei hat sich sehr verschlechtert. Der TV-Moderator Ahmet Hakan zum Beispiel, eine kritische Stimme, ist kürzlich öffentlich bedroht worden. "Wenn wir wollten, können wir dich wie eine Fliege zerquetschen", schrieb der Kolumnist eines Regierungsblatts. Was geht hier vor?

Kılıçdaroğlu: Auf die Medien wird enormer Druck ausgeübt. Sowohl in finanzieller Hinsicht – öffentliche Institutionen inserieren nicht mehr –, als auch durch direkte Bedrohungen von Journalisten wie im Fall von Ahmet Hakan, der durch den Kolumnisten Cem Küçük attackiert wurde. Und dann gibt es tatsächliche Angriffe auf Tageszeitungen, geführt von AKP-Abgeordneten. Die Medienfreiheit ist jetzt vielleicht der problematischste Bereich in der Türkei geworden.

STANDARD: Die Flüchtlinge in der Türkei haben sich mit einem Mal nach Europa in Bewegung gesetzt. Hat die türkische Führung nicht auch ein Interesse an dieser Massenflucht?

Kılıçdaroğlu: In der Türkei sind bisher 2,375 Millionen Flüchtlinge angekommen. Und ein großer Teil dieser Flüchtlinge will der besseren Lebensbedingungen wegen nach Europa. Es ist zwar möglich, den Landweg zu kontrollieren, nicht aber den Seeweg. 50 bis 60 Menschen quetschen sich in Boote, die für zehn oder 20 Personen ausgelegt sind. Große menschliche Dramen spielen sich hier leider ab. Aber weil die griechischen Inseln so nah an der Küste liegen, ist es nicht möglich, diese Bewegungen zu kontrollieren.

STANDARD: Eine Frage zu Syrien: "Eine Übergangsphase mit Assad kann es geben", hat Erdoğan nun erklärt. Was halten Sie davon?

Kılıçdaroğlu: Wenn er das tatsächlich gesagt hat, ist das eine bedeutende Wende. Aber er hat es schon wieder zurückgenommen. Erdoğan erklärte Assad zum Feind, und nun ist es natürlich schwierig, ihn zum Partner zu machen. Aber die ganze Welt hat mittlerweile eingesehen, dass es nicht möglich ist, ohne Assad Frieden in Syrien zu schaffen. Erdoğan weiß am besten, was der Krieg in Syrien die Türkei gekostet hat. Die Rechnung für Erdoğans Fehler muss derzeit die Türkei zahlen.