STANDARD: Haben Europas Gewerkschaften das Thema Flüchtlinge nicht etwas überhastet in ihr Programm für den Kongress von dieser Woche in Paris aufgenommen?

Ségol: Nein, nicht überhastet. Wir kümmern uns seit langem um die Migranten und die humanitäre Betreuung der Flüchtlinge. Jetzt rückt ihre Integration in den Vordergrund. Je mehr Leute wir aufnehmen, desto wichtiger wird die Frage ihrer arbeitsrechtlichen Behandlung. Flüchtlinge müssen im Betrieb gleichbehandelt werden. Alles andere erhöht die unloyale Konkurrenz und die Fremdenfeindlichkeit.

STANDARD: Was verlangen Sie konkret?

Ségol: Wenn ein Flüchtling in einem Unternehmen arbeitet, muss er unter den Kollektivvertrag des Unternehmens fallen. Für gleiche Arbeit muss er den gleichen Lohn und Schutz erhalten. Ich sehe das Risiko, dass Unternehmer mit geringen Skrupeln diese Arbeiter ausbeuten, indem sie sich des Statutes von Zuliefererfirmen oder der EU-Entsenderichtlinie bedienen.

STANDARD: Sehen Sie die Ankunft neuer Flüchtlinge als Chance für die europäische Wirtschaft?

Bernadette Ségol hält den Flüchtlingszustrom durchaus für eine Chance.
Foto: Etuc-Ces

Ségol: Warum nicht? Deutschland hat ein demografisches Problem, vielleicht sind von außen kommende Arbeitskräfte eine Lösung. Auf jeden Fall haben wir in Europa humanistische Werte, über die wir nicht nur diskutieren, sondern die wir jetzt wirklich umsetzen müssen. Es erfordert einen großen Plan, einen Bildungsplan, der nicht elitär ist und nicht nur die gut ausgebildeten Flüchtlinge integriert, sondern allen eine reale Integration auf allen Ebenen erlaubt

STANDARD: Also nicht nur Ärzte und Ingenieure?

Ségol: Wir müssen gerade auch jene integrieren, die eine weniger weitgehende oder gar keine Ausbildung haben. Sie darf man auf keinen Fall übergehen. Wenn wir nicht in ihre Ausbildung investieren, werden wir es nicht schaffen.

STANDARD: In Frankreich behaupten die Rechtsextremen bereits, die Flüchtlinge nähmen fünf Millionen Arbeitslosen den Job weg.

Ségol: Unsere erste Antwort muss zuerst einmal humanitär sein: Wir helfen Notleidenden. Das zweite Gegenargument lautet: Diese Flüchtlinge kommen in Auffanglager und haben dort keine Arbeitserlaubnis. Zuerst müssen sie Asyl beantragen und erhalten. Danach haben sie aber wie alle das Recht auf Integration.

STANDARD: Wenn es nicht um Ausländer geht, geben sich Europas Rechtsextreme wie etwa Marine Le Pen heute betont sozial. Wie gehen Sie damit um?

Ségol: Ich sage den europäischen Spitzenpolitikern seit langem, dass der Vormarsch dieser Populisten weitergehen wird, wenn man in Europa weiter auf die Löhne drückt, die Sozialleistungen kappt und den Service public schwächt. Das bringt die Leute gegen die EU auf. Das einzige Mittel dagegen ist, in Europa ein soziales Projekt zu verwirklichen.

STANDARD: Wie erleben Sie den EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker im Vergleich zu seinem Vorgänger José Manuel Barroso?

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Mit einem Gewerkschaftskollegen in Brüssel: Mit der Linie von Kommissionspräsident Juncker kann Ségol gut leben.
Foto: AP/Logghe

Ségol: In der Flüchtlingsfrage verfolgt Juncker eine relativ gute Linie. Generell konsultiert er die Gewerkschaften stärker. Dass Vize-Kommissionspräsident Valdis Dombrovskis für den Euro und den sozialen Dialog zuständig ist, zeigt die Bereitschaft, die Sozialpartner stärker einzubinden. Das Resultat lässt aber auf sich warten. Das gilt für die Koordination der Wirtschaftspolitik, das sogenannte "Europäische Semester" und Lohnfragen.

STANDARD: Warum prangern Sie am Kongress in Paris – immerhin der Stadt der Revolutionen und von Thomas Piketty – nicht explizit die Spitzensaläre von Konzernchefs an?

Ségol: Wir kämpfen seit Jahren gegen die Lohnungleichheit zwischen Spitzenpatrons und den anderen. Je mehr die Ungleichheit steigt, desto mehr steigen die Risiken für die Gesellschaft. Aber ich will den Kongress nicht in eine Kampfveranstaltung verwandeln. Im Manifest von Paris, das wir vorbereiten, sprechen wir von den Cheflöhnen auch deshalb nicht, weil es ein relativ kurzes Dokument ist.

STANDARD: Gegen die Wirtschafsflaute in Europa verlangt der EGB massive öffentliche Investitionen. Doch genügen da noch konjunkturelle Maßnahmen, wenn sich die Krise immer mehr als chronisch erweist?

Ségol: Die Frage ist berechtigt. Aber Priorität hat nun einmal die Frage, wie wir aus dem aktuellen Tief kommen. Nach dem Weltkrieg raffte sich Deutschland mit dem Marshallplan auf. Jetzt haben wir die nötigen Maßnahmen immer noch nicht ergriffen. Dafür gibt es Gegenmaßnahmen wie die Austerität. In Griechenland machen wir weiter damit, obwohl wir wissen, dass es nicht funktioniert.

STANDARD: Andere EU-Länder machen gewisse Fortschritte.

Ségol: Derzeit liegt man uns mit Spanien in den Ohren. Dabei hat Spanien noch kein genügendes Wachstum erreicht – und die Situation für viele Leute ist unglaublich prekär. Mit 600 Euro kann man einfach nicht leben.

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Ségol mit dem spanischen Premier Mariano Rajoy: "Die Situation vieler Leute in Spanien ist prekär. Mit 600 Euro kann man einfach nicht leben."
Foto: Reuters/VERA

STANDARD: Ziehen nach der Einführung des Mindestlohns in Deutschland andere EU-Länder nach?

Ségol: Das Problem liegt nicht so sehr bei den fünf EU-Ländern, die noch keinen Mindestlohn haben, wie etwa Schweden und Österreich: Sie betreiben gar kein Sozialdumping. Wichtiger ist, dass die Mindestlohnregeln richtig angewendet werden. Die Entwicklung in Deutschland ist ein Fortschritt, werden doch immer mehr Minijobs ersetzt. Hartz IV war eine Politik der "Konkurrenz nach unten", um auf Kosten der Nachbarländer die Exporte zu steigern. Heute hat Deutschland immer noch einen Ausfuhrüberschuss. Das zeigt, dass noch Raum besteht für eine Erhöhung des Mindestlohns über 8,50 Euro hinaus.

STANDARD: Thema Jugendarbeitslosigkeit: Hier bestehen in der EU nach wie vor massive Unterschiede von Land zu Land. Hat der EGB übergreifende Rezepte?

Ségol: Das Rezept heißt Solidarität. Das ist der Sinn des Sechs-Milliarden-Planes der EU von 2014. Er muss jenen nützen, die es am nötigsten haben. Auch wenn wir uns natürlich fragen müssen, wo die Investitionen am produktivsten sind und wo es Blockaden im Arbeitsmarkt gibt.

STANDARD: Ist die Berufslehre wie im deutschsprachigen Raum eine Lösung?

Ségol: Auf jeden Fall. Das Modell muss gefördert werden! Vielenorts ist das aber ein kulturelles Problem: Handarbeit gilt weiterhin als verpönt oder minderwertig. Dafür werden Junge in diesen Ländern mit sogenannten "Praktika" und Volontariaten ausgenutzt. Was durch die beliebige Aneinanderreihung oft einen Arbeitsplatz ersetzt. Dagegen kämpfen wir.

STANDARD: Vor der nächsten Klimakonferenz im Dezember in Paris verlangt der EGB eine "gerechte Energiewende". Was verstehen Sie darunter?

Ségol: Als Gewerkschaft sind wir dem Allgemeinwohl verpflichtet. Aber wir müssen und wollen auch unsere Mitglieder schützen. Man kann einem Arbeiter eines Chemie- oder Kohlebergwerks nicht einfach sagen: Ihr produziert zu viel CO2, wir machen den Laden dicht. Man muss viel erklären und informieren, man muss die Leute in die Energiewende einbinden, ihnen einen Übergangsplan bieten und sie nicht einfach mit 55 oder 60 nach Hause schicken. Es ist ganz einfach: Wenn wir all das unterlassen, scheitert die Klimakonferenz.

STANDARD: In Sachen Atompolitik ist der EGB alles andere als geeint. Die französische CGT verteidigt zum Beispiel den Atomkurs.

Ségol: Sie verteidigt vor allem ihre Arbeiter. Sie sagt, dass die Energiewende nicht funktionieren kann, wenn die Arbeiter außen vor bleiben. Zur allgemeinen Frage der Nuklearpolitik hat der EGB keine Stellung bezogen.

STANDARD: Sie beenden nur Ihre Karriere. Welchen Rat geben Sie einer jungen Basisgewerkschafterin auf den Weg?

Ségol: Ich sage ihr, sie komme zu nichts, wenn sie in ihrem Betrieb allein kämpft. Man muss sich auf ein Netzwerk stützen, Unterstützung von außen suchen. Das Wichtigste ist es, an den Wert der kollektiven Aktion zu glauben. (Stefan Brändle aus Paris, 29.9.2015)