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In aller Eile wurden Soldaten aus dem Umland nach Kundus verlegt, um sie bei der Gegenoffensive einzusetzen.

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Kundus/Neu-Delhi – Die Straßen von Kundus seien wie ausgestorben, berichten Augenzeugen. Viele Bewohner seien geflohen, andere versteckten sich verängstigt in ihren Häusern. Einen Tag nach dem Fall der Provinzhauptstadt haben Regierungstruppen am Dienstag eine Gegenoffensive gestartet, um die Taliban zurückzuschlagen. Unterstützt wurden sie von US-Kampffliegern, die am frühen Morgen Außenposten der Militanten bombardierten.

Die Kämpfe dauerten den ganzen Tag über an. "Wir haben das Polizeihauptquartier und das Provinzgefängnis zurückerobert", sagte Polizeisprecher Sajed Sarwar Hussaini laut dpa. Allerdings haben sich die Militanten offenbar in Häusern von Zivilisten verschanzt, was die Operation erschwert. Am Flughafen der Stadt seien die Aufständischen mit 5.000 Soldaten und der Unterstützung durch US-Kampfflugzeuge zurückgedrängt worden, teilten afghanische Sicherheitskreise mit.

Die Einnahme der Stadt ist der größte militärische Erfolg der Taliban seit ihrem Sturz 2001 – und ein schwerer Rückschlag für die Regierung von Präsident Ashraf Ghani, die vor genau einem Jahr angetreten war. Kundus und die gleichnamige Provinz sind strategisch wichtig, um den Norden des Landes und die Transportwege dort zu kontrollieren.

EU-Beauftragter: Auch IS erstarken

Der EU-Sonderbeauftragte für Afghanistan hat zudem vor einem Erstarken der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in dem Land gewarnt. "In den vergangenen Wochen hat sich der IS in Afghanistan neu formiert", schreibt Franz-Michael Mellbin in einem Beitrag in der deutschen Zeitung "Die Welt" (Mittwoch).

Die Extremisten hätten unter anderem Stammesführer brutal ermordet und ganze Familien gefangen genommen. Annahmen, die IS-Terrorgruppe werde in Afghanistan ein Randphänomen bleiben, hätten sich als unrichtig erwiesen. "Der Optimismus war verfrüht."

Wie kein anderer Ort steht Kundus für den deutschen Nato-Einsatz am Hindukusch. Bis Oktober 2013 hatte die Bundeswehr dort ein Feldlager. Doch nur zwei Jahre nach ihrem Abzug droht die Lage zu kippen. Immer weiter breiten sich die Taliban aus. Schon lange kontrollieren sie viele ländliche Regionen und nahmen mit Kundus erstmals seit 14 Jahren eine Stadt ein.

Eilige Truppenverlegung

Während die Taliban im Zentrum von Kundus triumphierend ihre weiße Flagge hissten, flohen Provinzregierung und Soldaten zum Lager auf dem Flughafen, um auf Verstärkung zu warten. Mittwochfrüh meldeten die Nachrichtenagenturen, der Flughafen sei unter Kontrolle der afghanischen Armee.

Die Taliban hätten auch die Kontrolle über ein Hospital übernommen, erzählte der Arzt Abdul Ahad der Agentur Reuters. "Sie behandeln die Leute sehr gut, besonders die Ärzte. Sie könnten die Herzen gewinnen, wenn sie länger bleiben." Die Militanten folgen damit einer Anwesiung ihres neuen Führers Mullah Akhtar Mansur, "Leben, Besitz und Ehre der respektierten Bürger der Stadt Kundus zu schützen".

Gerade zehn Monate ist es her, dass die Nato Ende 2014 die meisten Soldaten abzog. Seither verschlechtert sich die Sicherheits lage rasant. 2015 ist schon jetzt das blutigste Jahr seit 2001.

Der Erfolg in Kundus dürfte die Kampfmoral der Gotteskrieger weiter stärker. Auch für den neuen Taliban-Chef ist die Operation ein Triumph. Mansur, der intern noch umstritten ist, kann so seine Führungsrolle festigen.

Dagegen hat die Regierung von Ghani wenig vorzuweisen, was eine Wende zum Besseren verspricht. Die Friedensgespräche mit den Taliban stocken, und mit der Wirtschaft geht es bergab. Immer mehr Afghanen verlieren die Hoffnung. Zu Zehntausenden fliehen sie aus dem Land. Täglich beantragen bereits über 7000 Afghanen einen Reisepass. Nicht alle, aber viele wollen nach Europa. Vor allem Deutschland gilt als "gelobtes Land", seit sich die Kunde von der neuen deutschen Willkommenskultur verbreitet hat.

Manche Afghanen fühlen sich bereits an 1989 erinnert, als die Russen nach jahrelanger Besatzung aus Afghanistan abgezogen waren. Damals war das Land ins Chaos gestürzt, das in einen blutigen Bürgerkrieg zwischen zahlreichen rivalisierenden Kriegsherren mündete. (APA/Christine Möllhoff, 30.9.2015)