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Aggressive Krebszellen wandern in andere Organe und siedeln sich dort an.

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Heidelberg – Wer an Krebs erkrankt, für den bricht die Welt zusammen. Sie tut es erneut, wenn der Tumor gestreut hat. In vielen Fällen gilt der Krebs nun als unheilbar, und Ärzte sprechen von Lebenszeitverlängerung bei guter Lebensqualität. "

90 Prozent aller Krebspatienten sterben nicht am Primärtumor, sondern an den Metastasen", sagt Lukas Kenner, Leiter des Instituts für Labortierpathologie der Medizinischen Universität Wien sowie der Veterinärmedizinischen Universität Wien und stellvertretender Leiter des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Krebsforschung.

Denn die Behandlung von Metastasen ist ungleich schwieriger: Sie sind oft klein und liegen weit verstreut in verschiedenen Organen. Sie lassen sich oft weder herausoperieren noch bestrahlen. Meist bleiben dann nur die Chemotherapien, die mal mehr, mal weniger gut wirken.

Gefährliche Wanderung

Doch seit einiger Zeit findet ein Wandel statt: weg von den eher unspezifisch wirkenden Chemotherapien hin zu gezielt eingreifenden Behandlungen mit maßgeschneiderten Spezialmolekülen. Doch wie ausgereift sind diese Therapien?

Hat ein Tumor gestreut, ist auf zellulärer Ebene viel passiert: Eine Krebszelle löst sich vom Tumor, gelangt in die Blutbahn, durchbricht die Gefäßwand, dringt in ein neues Organ ein und bildet eine Metastase (Anm.: griechisch für Übersiedlung) samt eigener Blutversorgung. Der hochkomplexe Vorgang widerspricht gleich mehreren biologischen Regeln: Normalerweise bleiben Zellen an ihrem Platz – eine Nervenzelle im Gehirn, eine Leberzelle in der Leber -, und normalerweise dringen Zellen nicht in andere Organe ein und wachsen dort unkontrolliert. "Wir wissen noch erschreckend wenig über den Vorgang der Metastasierung", sagt Hellmut Augustin vom Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg, der die Rolle der Gefäßneubildung bei Tumoren erforscht.

Doch um in die komplizierten Krebsmechanismen gezielt einzugreifen, muss man diese genau verstehen. Momentan ist das nur bei wenigen Krebsarten, etwa dem Melanom, der Fall. "Der schwarze Hautkrebs hat sich zum Vorzeigebeispiel der Immuntherapie entwickelt", sagt Armin Gerger, Klinischer Onkologe an der Medi-Uni Graz.

Neue Waffen

Bei der Immuntherapie wird das körpereigene Abwehrsystem wieder in die Lage versetzt, Krebszellen anzugreifen – auch versprengte Metastasen. Theoretisch kann es Krebszellen aufgrund ihrer veränderten Oberfläche erkennen und ausschalten. Doch Tumorzellen sind gewiefte Gegner: Sie tarnen sich oder legen das Abwehrsystem lahm. Beim Melanom etwa hemmen Oberflächenstrukturen der Krebszellen die körpereigenen Killerzellen, indem sie sich an sie heften. Bei der Immuntherapie blockieren die neuartigen Medikamente diese Anheftstellen, sodass Krebszellen vom Immunsystem wieder als gefährlich erkannt werden.

Die erste Immuntherapie gegen Hautkrebs, Ipilimumab, ist seit vier Jahren auf dem Markt, kürzlich folgten weitere Präparate. "Erstmals kann Patienten mit vormals nicht heilbarem Hautkrebs die Perspektive eines Langzeitüberlebens geboten werden", sagt Gerger, der mit einer breiten Anwendung der Immuntherapie auch bei anderen Krebsarten in den nächsten Jahren rechnet.

Der Nuklearmediziner Uwe Haberkorn von der Uniklinik Heidelberg verfolgt einen anderen Ansatz: Bei der Endoradiotherapie spürt ein radioaktiv markiertes Molekül Krebszellen auf und zerstört sie. "Der Tumor wird, bildlich gesprochen, von innen bestrahlt", sagt Haberkorn. Dazu müssen die Wissenschafter zunächst bestimmte Strukturen auf der Oberfläche der Tumorzellen identifizieren, um das passende Gegenstück zu konstruieren, das sie dann radioaktiv markieren. Haberkorn hat mit Kollegen den Wirkstoff PSMA-617 entwickelt, der spezifisch an Prostatakrebszellen andocken kann. Die ersten klinischen Studien verliefen erfolgversprechend.

Chronisch machen

"Aber zielgerichtete Therapien verlangen nach zielgerichteter Diagnostik", sagt Augustin. Gegenwärtig sind etwa 200 verschiedene Krebserkrankungen bekannt, die sich in ihrer Biologie, in den Behandlungsmöglichkeiten und auch in ihrer Neigung, Metastasen zu bilden, unterscheiden. Zwar kann man heute einen Tumor genetisch entziffern – doch beim nächsten Schritt hapert es: "Lungentumore weisen bis zu 10.000 Erbgutveränderungen auf. Aber was bedeutet welche Mutation? Wir können die Spreu vom Weizen noch nicht wirklich trennen", sagt Augustin.

Aus diesem Grund existieren heute nur für einige metastasierende Krebsarten zielgerichtete Therapien – die im Übrigen nicht allen Patienten helfen. Onkologen greifen dann auf Chemotherapien zurück und kämpfen mit einem grundsätzlichen Problem: "Krebszellen passen sich kontinuierlich an, um zu überleben. Das heißt, mit jeder Therapie, die das Ziel hat, Krebszellen zu töten, züchtet man sich auch resistente Krebszellen heran", erklärt Kenner. Ein Krebspatient muss sich also alle zwei bis drei Monate radiomorphologisch untersuchen oder Gewebe entnehmen lassen, um zu prüfen, ob der Tumor geschrumpft oder gewachsen ist oder ob er gestreut hat. Die Therapie muss dann entsprechend angepasst werden.

Operation, Chemotherapie und Bestrahlung sind heute noch immer wichtige Waffen im Kampf gegen Krebs. Doch die neuen Therapieansätze lassen hoffen. "Das Ziel ist klar", sagt Kenner, "Krebs soll in Zukunft immer öfter wie eine chronische Krankheit behandelt werden können." (Juliette Irmer, 30.9.2015)