Kabuls angekündigte Offensive gegen die Taliban kam am Mittwoch zunächst kaum vom Fleck. Obwohl Truppen der Nato zur Hilfe eilten, war es bis Abend nicht gelungen, die nördliche Provinzhauptstadt von den Taliban zurückzuerobern. Der Flughafen der Stadt war laut Meldungen allerdings umkämpft.

Die 5000 Sicherheitskräfte hatten sich dort verschanzt, um auf Verstärkung zu warten. Ihnen standen zwar nur 500 bis 2000 Taliban-Kämpfer gegenüber, doch sei die Situation dennoch kritisch, sagte der Distriktchef von Chardara in der Provinz Kundus, Mohammad Zahir Niazi. Denn vielen Soldaten fehlten der Siegeswille und die Entschlossenheit.

Der Hintergrund: Um ihren Abzug Ende 2014 abzufedern, hatte die Nato die afghanischen Sicherheitskräfte auf 350.000 Mann aufgerüstet. Doch viele sind schlecht ausgebildet, schlecht ausgerüstet und entmutigt. Ihre Verluste sind riesig: Allein in diesem Jahr starben bis Ende Juli über 4300 afghanische Sicherheitskräfte bei Gefechten. Die USA verloren seit 2001 insgesamt 2000 Soldaten.

Die neuen Kämpfe schlagen zudem viele Menschen in die Flucht. 6000 der 300.000 Einwohner von Kundus sollen das Gebiet verlassen haben. Die Spitäler sind mit hunderten Verletzten überfüllt. 30 bis 100 Zivilisten wurden getötet. Und auch aus Nachbarbezirken kamen alarmierende Nachrichten – dort griffen die Taliban Polizeiposten und Ortschaften an.

Deutsche, britische und amerikanische Spezialkräfte trafen am Mittwoch in Kundus ein, um, wie es offiziell heißt, die Regierungstruppen zu beraten. Dabei wurden sie laut eigenen Aussagen allerdings attackiert und in Kämpfe verwickelt. Mithilfe von US-Luftschlägen und Nato-Kräften gelang es den afghanischen Truppen immerhin später, die Taliban vom Flughafen zurückzudrängen.

Kritik an Präsident Ghani

Die Einnahme von Kundus ist für die Taliban der größte Triumph seit 2001 – und für die Regierung ein Debakel. Parlamentarier verlangten den Rücktritt von Präsident Ashraf Ghani und des Geschäftsführers der Regierung, Abdullah Abdullah.

Die Nato hatte Ende 2014 die meisten Soldaten abgezogen, die verbliebenen 13.000 sollen beraten und ausbilden. Seitdem verschlechtert sich die Sicherheitslage rasant. Landeskenner wollen das Schlamassel lange vorausgesagt haben. Der pakistanische Talibanexperte Ahmed Rashid warnte 2010, dass sich der Krieg nur am Verhandlungstisch beenden lässt. "Ein militärischer Sieg über die Taliban ist eine Illusion."

Zwar gab es in den vergangenen Jahren immer wieder Chancen für Gespräche, doch sie wurden alle verspielt. Inzwischen scheint die Situation verfahrener denn je. Während die Taliban an Stärke gewinnen, erscheint die Regierung zusehends schwächer. Das mindert die Chancen, bei einem Deal Forderungen durchzusetzen. (Christine Möllhoff, 30.9.2015)