In seinem Debütroman schreibt Daniel Zipfel über Schlepper, Fremdenpolizisten und Asylwerber.

Foto: Manfred Weis

"Der Simmeringer arbeitet hart und will sonst seine Ruhe haben. Durch die Wirtschaftskrise ist für viele die Situation sicher nicht einfacher geworden, was auch ein Grund für das Erstarken der FPÖ ist." Der 32-jährige Schriftsteller Daniel Zipfel ist in Wien-Simmering aufgewachsen. Der gebürtige Deutsche hat dreißig Jahre im elften Bezirk verbracht, hat in Hasenleiten gewohnt, wo die Blauen immer die besten Sprengelergebnisse erzielen konnten. Im Sommer veröffentlichte er den Roman "Eine Handvoll Rosinen", der Bezug auf die Flüchtlingssituation und das Erstaufnahmezentrum Traiskirchen nimmt. (Eine ausführliche Roman-Rezension finden Sie hier.)

Warum Zipfel Versäumnisse der Politik sieht und das gleichzeitig die Wähler in die Arme der Rechtspopulisten treibt, sagt er im STANDARD-Interview.

STANDARD: In Ihrer Rolle als Autor, der sich mit Flüchtlingen beschäftigt hat: Wie nehmen Sie den Diskurs darüber in den vergangenen zwei Monaten wahr?

Zipfel: Ich war zuerst sehr positiv überrascht. Der Diskurs ist über viele Jahre hinweg extrem emotionalisiert worden. Das Thema ist primär für politisches Kleingeld verwendet worden, man hat sich nicht wirklich um einen sachlichen Zugang gekümmert. Jetzt war mit der Eskalation rund um Traiskirchen – wo Schwangere auf der Straße schlafen mussten und wo aus Ungarn dann Wochen später hunderte Menschen gekommen sind – der Moment erreicht, wo man ohne Sachlösung nicht mehr weiterkam. In der Bevölkerung gab es ein sehr großes Verlangen nach Sachlösungen. Das war für mich der Scheideweg, wo sich der Diskurs öffnete.

STANDARD: Was hat sich an diesem Punkt geändert in der Öffentlichkeit?

Zipfel: Der Moment für mehr Sachlichkeit schien gekommen. Diese Situation sehe ich immer noch ein wenig. Wenn ich mir allerdings das Herumlavieren der Politik anschaue, gerade in Bezug auf die Menschen, die quer durch Europa ziehen, werde ich langsam wieder pessimistisch. Es fehlt der Wille zu Sachlösungen.

STANDARD: Gab es vergleichbare Situationen in Österreich?

Zipfel: Wenn man es mit dem Bosnien-Krieg vergleicht: Damals wurden relativ unaufgeregt und ohne große Eskalation 90.000 Menschen aufgenommen, und es wurde ihnen ein De-facto-Schutzstatus gegeben. Sie wurden versorgt, ihnen wurde der Zugang zum Arbeitsmarkt erteilt, und das hat alles sehr gut funktioniert. Jetzt hat man eine ähnliche Situation, wo man wieder mit zehntausenden Menschen konfrontiert ist, die aus einer Krisenregion kommen. Aber wo ist die Diskussion über ein Vertriebenengesetz? Wo ist die Diskussion, ob man die Situation ähnlich lösen kann wie damals mit den bosnischen Flüchtlingen?

STANDARD: Österreich soll also alle Syrer aufnehmen?

Zipfel: Natürlich kann Österreich nicht allen syrischen Flüchtlingen einen Vertriebenenstatus gewähren, da bräuchte es eine europäische Lösung. Aber wo ist die Diskussion darüber? Im Moment ist es so, dass jeder syrische Flüchtling zwar einen Schutzstatus bekommt. Aber zunächst muss ein langwieriges Asylverfahren durchlaufen werden. Statt um Sachlösungen geht es nur um Angst. Auch bei meinen Lesungen – die Fragen im Publikum zielen immer darauf ab. Diese Angst wäre nicht notwendig.

STANDARD: Ist das ein Versäumnis der Politik?

Zipfel: Es ist auf jeden Fall ein Versäumnis der Politik. Sie fürchtet sich vor der eigenen Bevölkerung. Ich glaube, die Politik unterschätzt die eigene Bevölkerung, weil sie davon ausgeht, dass die Bevölkerung keine Flüchtlinge will und nicht bereit für sachliche Lösungen ist. Sie schaut mehr auf die Wahlstatistiken, als sich darum zu kümmern, sachliche Lösungen für Probleme zu finden. Das merken die Leute, dadurch steigt aber nur ihre Verunsicherung.

STANDARD: Offenbar ist diese Strategie ohnehin nicht besonders erfolgversprechend, wie man an den Ergebnissen der Oberösterreich-Wahl gesehen hat.

Zipfel: Vor allem der Boulevard spielt eine fatale Rolle. Es findet eine Eskalation der Sprache statt. Man spricht von "Invasion der Flüchtlinge", von einer "Überschwemmung", von "Asylkrieg". Das schürt diese Ängste. Dann kommt es halt dazu, dass noch mehr Angst produziert wird, als eigentlich angebracht wäre. Gerade in Oberösterreich: was da an Weltuntergangsstimmung herbeigeredet wurde, nur weil die Innkreisautobahn ein paar Stunden gesperrt war und man nicht nach Deutschland fahren konnte. Ich finde es auch interessant, dass die Populisten dort am meisten Zuspruch hatten, wo es am wenigsten Flüchtlinge gibt. Die Populisten sind derzeit die Einzigen, die den Leuten vermitteln, dass sie konkrete Lösungen haben.

STANDARD: Auch wenn diese sehr destruktiv sind.

Zipfel: Man kann weder Grenzen dichtmachen, noch kann man hunderttausende Menschen daran hindern, durch Europa zu ziehen. Man muss Wege finden, wie man damit umgeht, aber man kann es nicht verhindern. Die Populisten haben immer zwei Taschenspielertricks. Der eine ist, dass sie so tun, als ob sie die schweigende Mehrheit vertreten. Der andere ist, dass sie immer Sündenböcke für Probleme suchen. Wenn die Sündenböcke weg sind, ist das Problem gelöst.

STANDARD: Und die Sündenböcke sind in dem Fall die Flüchtlinge.

Zipfel: Ja.

STANDARD: Sie sind in Deutschland geboren, aber in Simmering aufgewachsen. Wie war es in den 80er- und 90er-Jahren, in Simmering zu leben?

Zipfel: Simmering war damals noch ein sehr ländlicher Bezirk, da gab es den Simmeringer Markt. Den habe ich sehr bunt in Erinnerung. Ich bin auf dem Schulweg immer durchgegangen. Natürlich hat Simmering auch sehr viele kleine Geschäfte gehabt, die Simmeringer Hauptstraße war eine sehr schöne Einkaufsstraße. Der Markt ist dann irgendwann verschwunden, auch das Bild von der Simmeringer Hauptstraße hat sich total gewandelt. Plötzlich gab es nur noch Handygeschäfte, Kebabbuden und Wettbüros. Das ist das, was viele Simmeringer stört. Wenn man mit einem Simmeringer darüber redet, was sich in den letzten Jahren geändert hat, kommt immer die Antwort: die Simmeringer Hauptstraße.

STANDARD: Wie kann man die Simmeringer beschreiben?

Zipfel: Der Simmeringer arbeitet hart und will sonst seine Ruhe haben. Durch die Wirtschaftskrise ist für viele die Situation sicher nicht einfacher geworden, was auch ein Grund für das Erstarken der FPÖ ist.

STANDARD: Die FPÖ rechnet sich im elften Bezirk gute Chancen aus, die SPÖ zu überholen. Können Sie das nachvollziehen?

Zipfel: Die FPÖ hat vielen Leuten in Simmering das Gefühl gegeben, dass sie ihre Sorgen und Ängste ernst nimmt. Natürlich hat sie sie damit eingefangen. Das ist typisch für die Populisten. Die Sozialdemokraten hatten einfach keine Lösungen parat für die Ängste der Leute. Da fehlt es an Visionen. In der Simmeringer Bevölkerung sind viele mit niedrigem Einkommen, es gibt keine hohe Bildung. Viele sind von der hohen Arbeitslosigkeit betroffen. Die Leute fühlen sich als Verlierer der momentanen wirtschaftlichen Situation, und die FPÖ hat ihnen das Gefühl gegeben, dass sie sie auffängt. Das ist auch ein Versäumnis der Sozialdemokraten. Der elfte Bezirk ist gar nicht der Bezirk mit dem höchsten Ausländeranteil.

Es laufen nicht lauter leichtgläubige und böswillige Menschen in Simmering herum. Aber es ist halt einfach so, dass die Leute Sorgen haben und glauben, es gibt mit der FPÖ jemanden, der sich ihrer angenommen hat.

STANDARD: Was könnte die SPÖ nun machen?

Zipfel: Wo sind die mutigen Visionen? Man hat nicht das Gefühl, dass die Sozialdemokraten die Ängste der Leute aufnehmen. Wo ist die grundlegende Kritik der Sozialdemokratie in Bezug auf die Wirtschaftskrise? Die grundsätzliche Diskussion fehlt einfach.

STANDARD: Auf Bezirks- und Landesebene wird nicht über das Asylthema entschieden, trotzdem ist es das dominierende Thema im Wahlkampf.

Zipfel: Es ist sehr präsent, und die Leute wählen sehr viel mit dem Bauch. Wenn die Leute Angst haben und wütend sind, dann wählen sie entsprechend. Wahlen sind etwas sehr Emotionales. Aber Wien ist auch das Wien der Freiwilligen auf den Bahnhöfen, Wien ist auch das Wien des Lichtermeers. Man darf Wien nicht unterschätzen. (Rosa Winkler-Hermaden, 2.10.2015)