Vor zwei Wochen hat Japans Parlament eine historische Wende in der Außen- und Sicherheitspolitik seit dem Zweiten Weltkrieg vollzogen. Als treibende Kraft agierte der nationalkonservative Ministerpräsident Shinzo Abe. Damit kann Japan sich künftig auf ein Recht zur "kollektiven Selbstverteidigung" berufen und in Konflikten an der Seite von Verbündeten kämpfen – selbst wenn es nicht direkt angegriffen wird. Abes Liberaldemokratische Partei setzte den Kurswechsel gegen Massenproteste und erbitterten Widerstand der Opposition durch. Das angespannte Verhältnis zu China, so die Befürchtung der Kritiker, könnte sich weiter verschlechtern. Alexandra Sakaki von der deutschen Stiftung Wissenschaft und Politik erklärt, warum sich an der Verfassungsänderung die Geister scheiden.
STANDARD: Warum scheiden sich 70 Jahre nach dem Krieg an der Verfassungsänderung weg vom Pazifismus dermaßen die Geister?
Sakaki: Die japanischen Kriegserfahrungen spielen eine bedeutende Rolle. Mehr als drei Millionen Japaner haben ihr Leben in diesem verlorenen Krieg gelassen, japanische Städte wurden durch Bombenangriffe zerstört. Aber auch die US-Besatzung nach dem Krieg beeinflusste die Politik und die Gesellschaft stark. Nach dem Krieg, der Japan wirtschaftlich zerstört hat, verfolgte die Regierung zudem den Ansatz, den wirtschaftlichen Wiederaufbau zu forcieren und möglichst wenig in die Armee zu investieren.
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STANDARD: Trifft der Begriff Pazifismus überhaupt zu, immerhin waren japanische Soldaten auch bisher schon im Ausland im Einsatz?
Sakaki: Strenggenommen nicht. Um das Nachkriegsjapan zu beschreiben, präferiere ich den Begriff Antimilitarismus. Pazifismus ist eine Philosophie, nach der Krieg unter keinen Umständen moralisch vertretbar ist, auch nicht zum Zweck der Selbstverteidigung. Das trifft auf Japan nicht zu. Japan hat schon lange eine der modernsten Streitkräfte der Welt und beteiligt sich seit Jahren an UN-Einsätzen. Auch die Allianz mit den USA passt nicht zum Begriff Pazifismus, der in Debatten über Japan trotzdem immer wieder verwendet wird. In Umfragen zeigt sich zum Beispiel, dass die Japaner größtenteils das Bündnis mit den USA und die Existenz eigener Streitkräfte befürworten.
STANDARD: Will sich Japan schlicht nicht mehr auf den Schutz durch die USA verlassen?
Sakaki: Während des Kalten Krieges fühlte man sich sehr sicher, weil jeder Konflikt um Japan zu einem Krieg zwischen den beiden großen Blöcken geführt hätte. Seit Anfang der 90er-Jahre, als aus Nordkorea erstmals Berichte über ein Raketen- und Atomwaffenprogramm nach Japan kamen, hat sich die Wahrnehmung geändert. Heute ist man sich nicht mehr sicher, dass die USA Japan unter allen Umständen unterstützen würden. Konkret betrifft das den Territorialstreit um die Senkaku-Inseln mit China. Da fürchtet man, dass die amerikanische Öffentlichkeit diese Inseln als zu unbedeutend betrachtet, um sicherheitspolitisch aufseiten Japans Risiken einzugehen. Vor allem, weil Japan bisher umgekehrt den USA keine militärische Unterstützung leisten konnte. Genau diese Einseitigkeit will das neue Gesetz beenden.
STANDARD: Gibt es schon Pläne, wo die japanischen Streitkräfte im Ausland tätig werden könnten?
Sakaki: Im Parlament wurden mehrere Szenarien diskutiert, bisher sind sie allesamt eher abstrakt. Am wahrscheinlichsten sind Einsätze bei Peace-Keeping-Missionen der Uno.
STANDARD: An solchen Einsätzen nimmt Japan aber schon seit Jahren teil.
Sakaki: Das neue Gesetz ändert aber die sogenannten Rules of Engagement, also die Einsatzregeln. Bisher etwa durften japanische Soldaten nicht helfend eingreifen, wenn ihre Kameraden aus anderen Ländern während des Einsatzes angegriffen wurden. Künftig können japanische Soldaten dann zu Hilfe eilen.
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STANDARD: 2004 waren japanische Soldaten auch im Irak im Einsatz. Wie wurde das damals gerechtfertigt?
Sakaki: Offiziell nahm Japan nicht am Kampfeinsatz teil, sondern entsandte Truppen im Rahmen einer UN-Resolution für den Wiederaufbau des Irak. Zudem kamen die Japaner in den Süden des Landes, der als vergleichsweise stabil galt. Die Gegend rund um das japanische Kontingent wurde einfach als "Non-Combat-Area" definiert. Der Hintergrund ist einmal mehr, dass die japanischen Soldaten aufgrund ihrer strengen Einsatzregeln sich selbst und auch das Kollektiv nur eingeschränkt verteidigen durften. Natürlich war der Irak aber auch im Süden nie so stabil, wie die Regierung behauptete, was zu heftiger Kritik in Japan führte. Aber auch international war man nicht nur glücklich mit den Japanern, weil sie zum Schluss kaum aus ihren Camps hinausdurften und andere Truppen, vor allem die Niederländer, sie sozusagen babysitten mussten.
STANDARD: Warum dann heute die heftigen Proteste?
Sakaki: Erstens wegen des tatsächlich starken Antimilitarismus in der Gesellschaft und der Angst um die Sicherheit japanischer Soldaten bei Einsätzen im Ausland. Andererseits empört viele Japaner die Art und Weise, wie die Regierung Abe die neuen Gesetze durch das Parlament gepeitscht hat. Die Regierungspartei LDP hat nicht den Eindruck vermittelt, dass sie an einem echten Austausch mit der Opposition interessiert ist. Im Parlament wurden oppositionelle Politiker verhöhnt, kritische Experten weitgehend ignoriert. Dieses Vorgehen hat das Vertrauen der Öffentlichkeit erschüttert.
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STANDARD: Könnte eine neue Regierung wieder zum alten pazifistischen Grundsatz zurückkehren?
Sakaki: Es ist schwer, einen solchen Grundsatz in der Praxis tatsächlich auszumachen, die antimilitaristischen Restriktionen wurden in den vergangenen Jahren schon sehr oft gelockert. Ich halte es zudem für unwahrscheinlich, dass eine neue Regierung die neuen Sicherheitsgesetze einfach zurücknehmen würde, weil die Allianz mit den USA für alle großen politischen Parteien und in der Bevölkerung unantastbar ist. Eine Rücknahme durch die Opposition würde großen Schaden anrichten, das würde niemand riskieren wollen.
STANDARD: Welche Rolle spielt die japanische Rüstungsindustrie?
Sakaki: Sie ist sicher keine treibende Kraft. Die meisten japanischen Rüstungsfirmen machen ihr Hauptgeschäft im Bereich Konsumgüter, etwa Mitsubishi. Diese Firmen waren in der Vergangenheit mit Rücksicht auf den vorherrschenden Antimilitarismus stark darauf bedacht, ihr Image als Rüstungsproduzenten klein zu halten. Aber natürlich beinhaltet die Entscheidung der Regierung auch industriepolitische Aspekte, etwa hat man die Waffenexportrichtlinien gelockert. Die Regierung sieht, dass sich Japan aufgrund seiner hohen Staatsverschuldung keine große Steigerung in seinem Verteidigungsbudget leisten kann, gleichzeitig wird militärische Technologie immer komplexer und teurer. Um sein hohes technisches Niveau im Bereich Rüstung zu halten, ist Tokio zu multilateralen Rüstungsprojekten gezwungen. Ein zentraler Akteur ist die Industrie im aktuellen Fall aber nicht. (Florian Niederndorfer, 7.10.2015)