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Grenzalltag unterm Flugdach: Kleiderspenden wurden verteilt, Essen wird gefasst, wer es braucht, nimmt die medizinische Hilfe im Rotkreuz-Feldspital in Anspruch. Dann geht es weiter in ein Quartier.

Reuters/Heinz-Peter Bader

Nickelsdorf – Ein wenig wirken die Protagonisten selber überrascht davon, wie schnell ihnen alles in Fleisch und Blut übergegangen ist. Am ersten Septemberwochenende herrschte im norburgenländischen Nickelsdorf beinahe Ausnahmezustand. Einen Monat später, am ersten Oktoberwochenende, geläufige Routine. Auf weiterhin hohem Niveau.

Am ersten Oktoberwochenende kamen immerhin 13.00 Menschen. Von 1. Oktober bis zum vergangenen Samstag erreichten 54.102 Flüchtlinge das mittlerweile schon berühmt gewordene Flugdach in Nickelsdorf.Um von dort aus in aller Ruhe weitertransportiert zu werden, woimmer ein winterfester Platz ist. Helmut Marban, der Sprecher der burgenländischen Polizei, ist einigermaßen stolz darauf, die Flüchtlingskrise mit so hoher Professionalität ("Die meisten bleiben keine zwei Stunden hier.") abgewickelt zu haben. "Seit dem 5. September sind rund 230.000 Flüchtlinge ins und durchs Burgenland gekommen." Und dennoch habe es "keine einzige unschöne Szene gegeben".

Learning by doing

Das lag auch daran, dass die im Einsatz stehenden Organisationen – Polizei, Rotes Kreuz und seit kurzem auch das assistierende Bundesheer – fein abgestimmt aufeinander vorgehen. Jeder packt an und weiß dabei, an welchem Griff er das zu tun hat.

Dazu kommt eine gewisse Lernfähigkeit. "So einen Einsatz", sagt Rotkreuz-Sprecher Tobias Mindler, "kann man nicht üben." Sein Kollege von der Polizei gibt ihm recht: "Das war notgedrungen learning by doing."

Zum Beispiel das Transport- und Crowdmanagement. Die Busse parken nun außer Sichtweite und werden angefordert, wenn vom Innenministerium ein Quartier durchgegeben wird. Das nimmt Aufregung bei den Ankommenden, die ansonsten zu den Bussen drängen würden. Um Drängeln, wie es bei großen Menschenmengen unvermeidlich ist, zu minimieren, hat die Polizei nun "Schnecken" aufgestellt, ähnlich denen beim Einchecken auf Flughäfen.

12-Stunden Schichten

Die Kommunikation mit den Ungarn funktioniere zwar immer noch nicht ideal. Immerhin aber habe man nun eine gewisse Vorlaufzeit. Die knapp vier Kilometer vom Bahnhof Hegyeshalom bis zur Grenze werden in etwa eine halben, dreiviertel Stunde bewältigt, 1000 bis 1500 Menschen sitzen in den von Kroatien hierhergeführten Zügen.Auf österreichischer Seite erwarten sie 40 bis 50 Rotkreuzler pro 12-Stunden-Schicht, ebensoviele Polizisten und Soldaten. 150 Helfer also, für welche die burgenländische Polizei, so Helmut Marban, von Anfang an einen Hauptgrundsatz ausgegeben hat: "Bilder, wie wir sie aus Ungarn gesehen haben, müssen auf jeden Fall vermieden werden."

Re-aktiv statt pro-aktiv

Auch beim Roten Kreuz haben die Abläufe sich eingespielt. Hat man sich, so Tobias Mindler, auf eine re-aktive Rolle zurückgezogen. "Bei Katastrophen bestimmen wir zumeist das Handeln, sind pro-aktiv. Hier hat die Polizei die Federführung." Auf Stabsebene sei das bald geklärt worden.Jetzt kommt dann die Zeit der Manöverkritik. Das Rote Kreuz habe schon gelernt, die überschwängliche Hilfsbereitschaft in professionelle Hilfe einzubauen. Und mit den Kräften hauszuhalten. "Wir sind sehr gut, in kurzer Zeit Großes auf die Beine zu stellen. Aber es fehlt uns der lange Atem." Die Polizei ölt die Stabskoordinationen. Und bereitet sich vor, die Nickelsdorfer Erfahrungen bei Bedarf in die neuen Hotspots zu tragen. Es sei denn, Deutschland . . . Aber daran mag niemand ernsthaft denken.(Wolfgang Weisgram, 12.10.2015)