Bild nicht mehr verfügbar.

Um die Chancengleichheit ist es nicht zum Besten bestellt – daran ändert auch die Neue Mittelschule nichts.

FOTO: APA/HERBERT NEUBAUER

"Vorarlberg bereitet sich auf die gemeinsame Schule vor", titelt DER STANDARD, im Text wird dann eingeschränkt: "zumindest theoretisch". Immerhin steht unter anderem nichts Geringeres im Wege als die "Aufhebung der verfassungsrechtlichen Forderung der weiteren angemessenen Differenzierung bei den Sekundarschulen (Art. 14 Abs. 6a B-VG)", wie man den Empfehlungen der von der Landesregierung eingesetzten Projektgruppe entnehmen kann. An dieser Aufgabe sind schon die Besatzungsmächte gescheitert, die Education Division der amerikanischen Armee schätzte nach 1945 das differenzierte Schulsystem als "außerordentlich schweren Verstoß gegen die Chancengleichheit" ein.

Um die Chancengleichheit, man lese nur den Nationalen Bildungsbericht, ist es nicht zum Besten bestellt. Und keine der Maßnahmen, die in Österreich in jüngster Zeit gesetzt wurden, hat daran etwas geändert. Was die Neue Mittelschule betrifft, ist eher das Gegenteil eingetreten.

Abenteuerliche Schulprofile

Der Öffentlichkeit wurde und wird das neue Modell als Innovation verkauft. Liest man die Homepages so mancher Neuer Mittelschulen (NMS), könnte man glauben, es handle sich um Exzellenz-Institutionen. Bei anderen kommt man indessen ins Grübeln, wenn man zum Beispiel bei einer Modellschule liest: "Gestärkt durch individuelle 'Urhebererlebnisse' (Wissen, welches sich das Kind mit Unterstützung durch Lehrer/innen und/oder Lernpartner/innen selbst aneignet), ist es unser Bestreben, durch Vielfalt in der Unterrichtsmethodik [...] persönliche Lösungen für individuelle Lern/Herausforderungen [...] zu erarbeiten." Wobei nichts Geringeres als die "Methodik des Sozial-Kreativen Lernens" angewandt wird. Mit dem Bildungswissenschafter Andreas Gruschka – nicht alle Bildungswissenschafter schwimmen mit dem Mainstream der "Erleichterungspädagogik" – ließe sich von "enthemmtem Dilettantismus, Erklärungsnot, Hilflosigkeit und der Flucht in Leerformeln und Allgemeinplätze" sprechen; diese prägen ja die rezenten Reformen überhaupt.

Die Neuen Mittelschulen konkurrieren untereinander mit abenteuerlichen Schulprofilen und Schwerpunkten um die kleiner werdende Klientel, die Mehrheit geht schon wie selbstverständlich in die Gesamtschule Gymnasium. Zu diesem Zweck werden zum Beispiel zusätzliche Fremdsprachen für Kinder mit nichtdeutscher Muttersprache als Wahlpflichtfächer angeboten, Sprachunterricht in der eigenen Muttersprache für sie findet praktisch nicht statt. Für Deutschlehrer in der Pflichtschule ist auch eine Ausbildung in Deutsch als Zweitsprache im Gegensatz zu Germanisten an der Universität nicht vorgesehen, dabei sind gerade sie mit den entsprechenden Schülern konfrontiert.

Gegenstände ohne Inhalte

Fächerschwerpunkte auf Kosten anderer Fächer werden in der NMS geschaffen, Gegenstände ohne Curriculum, sprich ohne konkrete Inhalte, erfunden. (Der Autor dieser Zeilen war einmal genötigt, in der siebenten Schulstufe einen Gegenstand mit dem Titel "Kultur und Sprache" zu unterrichten.) Das wird jedoch weiter nicht als so schlimm empfunden, müssen viele NMS-Lehrer doch sowieso alles unterrichten, ob geprüft oder nicht. Junglehrerinnen mit sieben Fächern sind keine Seltenheit. Wie dieser Umstand mit der neuen, fusionierten Lehrerausbildung zusammengehen soll, ist schwer vorstellbar. Auch wegen der Tatsache, dass die fachwissenschaftliche Ausbildung an den Pädagogischen Hochschulen mancherorts mitleiderregend ist.

Das vielpropagierte Teamteaching mit AHS-Lehrern ist teilweise Camouflage, wenn die Gymnasien zu diesem Behufe Studenten und Quereinsteiger anstellen.

Dazu hat man noch ein neues Notensystem mit sieben Stufen erfunden, um dort, wo diese überhaupt ausgenützt werden, positive Leistungen vorschützen zu können. Das ist zur Aufrechterhaltung der psychischen Hygiene von Schülern und Lehrern auch notwendig. Echte Lernerfolge werden durch überbordende Didaktisierung und damit verbundene Missachtung von, ja, Tugenden wie Stetigkeit, Verarbeitungstiefe und Mühewaltung verhindert.

Lizenz für "enthemmten Dilettantismus"?

Viele Lehrer können sich des Gefühls nicht erwehren, dass die Überprüfung der Bildungsstandards in Deutsch um zwei Jahre verschoben wurde, um die NMS vom Vergleich mit den Hauptschulen zu verschonen und nicht publik werden zu lassen, wie einer ganzen Bevölkerungsschicht de facto nachhaltige Schulbildung vorenthalten wird.

Anlass zur Sorge ist auch die von vielen Seiten erhobene Forderung, die Autonomie der Schulen zu erweitern; als Insider befürchtet man eine erweiterte Lizenz für "enthemmten Dilettantismus". In Verbindung mit der ausschließlich parteipolitischen Besetzung der Leiterstellen fast eine Drohung.

NMS ohne Lobby

Aber natürlich ist die Bildungspolitik nicht allein an allem schuld. Der Germanist Heinz Schlaffer wendet in einer Rezension der "Geisterstunde" von Konrad Paul Liessmann ein, dass die Erziehung einer Generation eben nicht vollständig plan- und korrigierbar ist, denn "über die Bildung und Unbildung der Schüler und Studenten entscheidet, vor und nach den Unterrichtsstunden, vor allem der tägliche Konsum von Musik, Bildern, direkter und digitaler Kommunikation".

Intellektuelle wie Liessmann und Schlaffer machen sich übrigens vorrangig über die höheren Schulen Gedanken, deren Lobby kann sich artikulieren, hat als Leser und Verfasser Zugang zu den Feuilletons, ein – natürlich notwendiges – Buch wie "Geisterstunde" wird so ein Bestseller. Eine Lobby haben die Eltern der NMS-Schüler nicht.

Schon 1947 hat ein Bericht der US Education Division festgestellt, "[...] that class stratification among the pupils is so rigid as class stratification among teachers. Some of this, in mittelschulen teachers, may be due to mittelschulen and university training, but I would be more inclined to attribute it to professional pride and vanity, and to the historical influence of the growth of a class-conscious bourgeoisie which used the educational system as a means of self-advancement to a higher social status." Fast könnte dies heute geschrieben worden sein. (Peter Apfl, 13.10.2015)