Die Sinologin Lena Springer arbeitet an einem Buch über die Kulturgeschichte medizinischer Wirkstoffe im China der Moderne.

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Medizinnobelpreisträgerin Youyou Tu Ende der 1950er-Jahre mit ihrem Lehrer Zhicen Lou und klassischen TCM-Ingredienzien.

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Eine frisch geerntete TCM Rohdroge: Ginseng vom Berg Taibai in der mittelchinesischen Provinz Shaanxi.

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Pillendrehen wie hier in Kaili, Provinz Guizhou, ist eine der traditionellen Verarbeitungsformen von TCM Rohstoffen.

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Wien – "Artemisinin ist ein Geschenk der TCM an die Menschheit." Das sagte Youyou Tu, die erste wissenschaftliche Nobelpreisträgerin aus China, vergangene Woche als erste Reaktion auf die Zuerkennung des höchsten wissenschaftlichen Preises der Welt. Tu hatte den Pflanzenwirkstoff 1971 als wirksames Heilmittel gegen Malaria nach sorgfältiger Lektüre alter chinesischer Schriften identifiziert.

Medizinnobelpreis und traditionelle chinesische Medizin, wie geht das zusammen? Besteht nicht ein Widerspruch zwischen (naturwissenschaftlicher) Schulmedizin und TCM? Die Sinologin und Sozialanthropologin Lena Springer, eine Expertin für chinesische Medizin, sieht das Problem zumindest für China nicht: "Dort reagiert man empfindlich, wenn man Schulmedizin und TCM auseinanderdividieren will."

Die alte Medizintradition sei ein Teil der Moderne, das Adjektiv "traditionell" brauchte man also gar nicht, meint die gebürtige Deutsche, die in Wien promoviert hat und zurzeit am Institut für EASTmedicine der Universität von Westminster in London über chinesische Medizin forscht und dabei auch engen Kontakt mit Youyou Tu hatte. Trotzdem seien die verschiedenen beruflichen Ausprägungen gesellschaftlich nicht gleichwertig, so Springer: "Die Berufe, die sich mit Bewegungs- und Atemtechniken und gesunder Ernährung befassen, haben einen viel niedrigeren Status als zum Beispiel die Chirurgie."

Der große Sprung

Eine wichtige Phase für die TCM in China war die Zeit des "Großen Sprungs nach vorn", also ab Ende der 1950er-Jahre. In dieser Zeit wurden die TCM-Unis gegründet und die chinesische Medizin auch auf akademischem Niveau etabliert. Die junge Pharmazeutin Tu wurde damals für zweieinhalb Jahre von ihrer Arbeit freigestellt, um einen Kurs in chinesischer Medizin zu absolvieren.

Zeitgleich wurde damals der "neue Mensch" propagiert – ein Mensch, der nicht entweder Bauer oder Soldat, sondern ein "Generalist" sein sollte. Individuelle Genies waren verpönt, erlaubt nur eine Art kollektives Wissen. "Für Frau Tu war das damals sehr bitter", so Springer, die am Donnerstag in Wien einen Vortrag hält: "Obwohl sie das Heilmittel gegen Malaria fand, wurde ihre Rolle als Entdeckerin damals nicht anerkannt." Tus Forschungsergebnisse wurden im Jahr 1971 anonym veröffentlicht.

Anerkennung in Ost und West

In Österreich gibt es zahlreiche Ärzte, die über eine TCM Zusatzausbildung zu ihrem regulären Medizinstudium verfügen. Bis zum Jahr 2009 konnte man auch an einer Privatuniversität in Wien TCM studieren. "In vielen Ländern wie zum Beispiel in England oder in der Schweiz ist das nach wie vor möglich", so Springer. "Problematisch ist jedoch die gegenseitige Anerkennung."

Das betreffe auch China: In Europa ausgebildete TCM-Mediziner, die noch dazu nicht Chinesisch sprechen, werden dort kaum anerkannt. Ähnliches erleben chinesische Fachleute, die in Österreich praktizieren wollen. Die Sinologin sieht in der gegenseitigen Anerkennung die große Herausforderung der Zukunft. Bei ihren Feldforschungen etwa in einer Wiener Apotheke beobachtete sie aber auch Beispiele geglückter Kommunikation: "Über sprachliche Hürden hinweg sind die chinesischen Arzneien und Verarbeitungstechniken für österreichische und chinesische Experten doch die gleichen – und Fachgespräche gelingen."

Eselhautgelatine auf Rezept

In Österreich gibt es zurzeit über 50 Apotheken, die Arzneien aus China verkaufen und exotische Rezepte wie zum Beispiel "Eselhautgelatine auf Muschelsand geröstet" auf Wunsch zubereiten. Vonseiten diverser Tierschutzorganisationen hagelt es aber immer wieder Kritik. Springer hält dies einerseits für legitim, angesichts der Tierschutzsituation in der Pharma- und Kosmetikindustrie andererseits aber auch für etwas zynisch.

Am Beispiel der beliebten schwarzen Eselshaut sieht sie den Ausweg in Regulierungen und Preisbewusstsein: "Man kann billige Produkte kaufen, dann muss man davon ausgehen, dass der Rohstoff aus fragwürdiger Tierhaltung stammt. Oder man kann – ganz wie bei Bioprodukten – mehr zahlen und die Garantie haben, dass die Tiere artgerecht gehalten wurden." Einen Ausweg bildet auch das Ersetzen kritischer Rohstoffe durch Akzeptierte, die den gleichen Effekt haben. Das gilt auch für beliebte chinesische Heilpflanzen, die aufgrund der großen Nachfrage in einigen Gegenden bereits bedroht sind. (Renate Degen, 15.10.2015)