Ein paar Meter, dann wäre die Steigung geschafft. Doch Hanspeter Eisendle macht eine sanfte Drehung nach links und zieht die Spur an ein paar Latschenkiefern vorbei, die aus dem Schnee ragen. "Die meisten wären geradeaus gegangen", sagt er und wendet sich dabei leicht nach hinten "doch ich möchte die perfekte Aufstiegsspur finden." Nicht zu steil dürfe diese sein und auch nicht zu flach. Ohne seinen Schritt zu verlangsamen, stapft der Bergführer weiter durch die gleißende Winterlandschaft – und hängt wieder seinen Gedanken nach.

Eine Stunde ist die kleine Gruppe bereits auf ihren Skiern unterwegs. Am Talboden glitzert der Durnholzersee, einige Bergbauernhöfe hängen an den Steilhängen. Kein Mensch ist an diesem Wintermorgen hier im hintersten Sarntal zu sehen. Obwohl sich das Tal im geografischen Mittelpunkt von Südtirol befindet, verirren sich nur wenige Menschen bis ans Talende. Im einzigen Gasthaus unten im Dorf, dem Jägerhof, haben sich einige Familien einquartiert – und ein paar Skitourengeher.

Ein Blick auf die Dolomiten von unterhalb der Karspitze hoch über Durnholz.
Foto: Manuel Ferrigato

Bei guten Schneeverhältnissen schnallen sie sich vor dem Gasthaus die Skier an und ziehen los: hinauf auf einen der unzähligen Berge, die ringsum am Horizont zu sehen sind. "Das Sarntal ist im Hochwinter ein Geheimtipp für Skitourengeher", hat Eisendle am Abend zuvor über sein Ossobuco gebeugt gesagt. Eine Vielzahl an Gipfeln, keiner höher als 2500 Meter. Dafür aber mit einem phänomenalen Blick auf die Dolomiten im Osten, die Ortlergruppe im Westen und die Ötztaler und Zillertaler Alpen im Norden. "Ich wette, dass wir morgen allein auf der Karspitze stehen werden. Macht man einen Bogen um die Berge, auf die am Wochenende alle gehen, dann ist das so gut wie immer möglich."

Volkssport Skitourengehen

Skitourengehen ist auch in Südtirol zu einem regelrechten Volkssport geworden. Verlässliche Zahlen gibt es zwar nicht, eine Schätzung des Südtiroler Statistikamtes (aus dem Jahre 2011) sagt, dass in einer Wintersaison zwischen 200.000 und 300.000 Touren von 14.000 bis 20.000 Personen unternommen werden. Das deckt sich mit Eisendles Schätzungen. Im Winter ist der Berg- und Skiführer beinahe jeden Tag auf den Bergen unterwegs. 138 Skitouren hat er allein im vergangenen Winter gemacht.

Ein Gesicht, das von vielen Gipfeln erzählt: Berg- und Skiführer Hanspeter Eisendle ist im Winter fast jeden Tag auf (Südtiroler) Bergen unterwegs.
Foto: Manuel Ferrigato

An diesem Freitagvormittag ist eine relativ moderate dran. Nicht einmal 1000 Höhenmeter sind es vom obersten Hof über Durnholz, wo wir unser Auto abstellen, bis auf die Karspitze. Erst geht es einen Steig entlang, bis man die Waldgrenze erreicht, dann über sanfte Hügel bis auf das Joch und von dort aus über einige etwas steilere Hänge auf den Gipfel. Gestern stand eine schattige Steilrinne auf dem Programm, heute sind es zur Belohnung sanfte Sonnenhänge. Am frühen Vormittag ist der Schnee jetzt aber noch steinhart. "Mit ein bisschen Glück firnt er, bis wir am Gipfel sind auf", sagt Eisendle und setzt dann zur ersten Spitzkehre an. Nächstes Jahr wird der Bergführer 60. Das kleine Grüppchen, das sich an seine Fersen geheftet hat, hat sichtbar Mühe, mit ihm Schritt zu halten.

Bergführer aus Notwendigkeit

Hanspeter Eisendle gehört wie die Drei Zinnen oder der Rosengarten zu Südtirols Bergen. Anders als Reinhold Messner oder Hans Kammerlander hat er aber nie ein Aufsehen um seine eigenen Leistungen gemacht. Mit ersterem war er bei einigen Himalayexpeditionen unterwegs, mit Letzterem führte er viele Jahre zusammen die von Messner gegründete Alpinschule Südtirol. Heute führt er die Bergsteigeragentur allein und hat von Einsteiger- bis Gletschertouren das ganze Sortiment im Programm. "In erster Linie bin ich Bergsteiger", sagt Eisendle, "Bergführer bin ich nur aus Notwendigkeit."

Zur richtigen Jahreszeit finden Skitourengruppen beste Aufstiegsbedingungen zu Königsspitze und Ortler, den höchsten Erhebungen der Ortlergruppe.
Foto: Südtirol Marketing

Seine erste Skitour hat Eisendle als Kind gemacht, auf den Rosskopf bei Sterzing, zusammen mit seinem Vater, die schweren Skier fest auf den Rücken gebunden. Skitourenbindungen gab es damals noch nicht, erst als sie erfunden wurden, war der Weg frei für den Aufstieg des Skitourengehens, wie wir es heute kennen. "Wenn man früher eine Skitour gemacht hat, haben einen die Leute gefragt, ob man kein Geld für die Skikarte habe." Das änderte sich erst in den 1980ern und 1990ern, als immer mehr Menschen von den immergleichen Pisten die Nase voll hatten und hinaus in die unberührten Hänge drängten. Heute, schätzt Eisendle, schnallen sich bereits etwa zehn Prozent der Südtiroler mehr oder weniger regelmäßig Tourenskier am.

Absoluter Freiraum

Einen Berg, der sich für eine Tour eignet, hat in dieser Region beinahe jeder vor seiner Nase. Anders als im Sommer, wenn Wanderwege den Weg vorgeben, muss man sich im Winter aber den Weg selber suchen. "Da gehört einiges an Erfahrung dazu", sagt Eisendle "aber es lockt der absolute Freiraum." In Südtirol ist die Auswahl an Bergen besonders groß. "Fast jeder kennt die Dolomiten, dort sind die Gipfel besonders spektakulär."

Vor allem im Winter sind viele von ihnen aber nur für geübte Skitourengeher ratsam. Nicht immer liegt genug Schnee, die Hänge sind oft sehr steil, die Abfahrten schwierig. "Am Alpenhauptkamm gibt es dagegen größere Schneesicherheit. Die Zillertaler und Ötztaler Alpen bekommen sowohl bei Tiefs aus dem Süden als auch bei jenen aus dem Norden Schnee."

Winteridylle mit Blick auf den Schlern
Foto: Südtirol Marketing

Jetzt, Ende Februar, ist die Schneelage nicht wirklich optimal. Anders als ein Jahr zuvor, als so viel Schnee lag, dass man bis in den Juni hinein Skitouren machen konnte, zeigen sich bereits einige apere Stellen. Nur mehr wenige Höhenmeter trennen das Grüppchen vom Gipfel. Am Horizont zeigen sich nach und nach die spitzen Dolomitengipfel. Lang- und Plattkofel lugen hervor und zu ihrer Rechten der Schlern, das Wahrzeichen Südtirols. Ein Blick wie aus der Touristenwerbung.

Trittsicherheit erforderlich

Ein scharfer Wind bläst den Tourengehern um die rinnenden Nasen, der Atem wird spürbar länger. "Macht bitte Pause", mahnt Eisendle. Der Körper verlangt nach Flüssigkeit, an die Skier werden Harscheisen geheftet. Der Schnee ist in dieser Höhe noch immer steinhart, der Gipfelhang erfordert Trittsicherheit. Eisendle scannt das Gelände und zieht die Spur dann so, als wolle er den Gipfel umrunden. Trotz des steilen Geländes bereitet es keine Mühe, ihm zu folgen. "Die Spur ist eine Huldigung an die Natur", wird Eisendle später auf dem Gipfel der Karspitze sagen. Und dann in seine Wurstsemmel beißen. (Stephan Hilpold, 21.1.2016)