Sebahat Tuncel sieht eine "Kriegsstimmung" in der Türkei vor der Parlamentswahl.

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STANDARD: Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel ist zwei Wochen vor den Parlamentswahlen nach Istanbul geflogen und hat Staatspräsident Erdoğan und Premier Davutoğlu Versprechungen gemacht. Was halten Sie davon?

Tuncel: Bei dem Treffen von Frau Merkel in Istanbul ging es um die Flüchtlingsfrage. Aber der Zeitpunkt, so kurz vor den Wahlen, kann auch als Unterstützungserklärung für die AKP angesehen werden. Das wichtigste Thema für die EU sind die Flüchtlinge, doch die Ursache dieses Problems sind die AKP-Regierung und deren Politik in Syrien. Das hat ganz klar zum Krieg beigetragen und zur Flucht der Menschen. Deshalb ist es einerseits verständlich, dass die EU die Flüchtlingsfrage im Gespräch mit der AKP lösen will, da diese ja nun die Ursache ist. Aber es ist aus meiner Sicht auch problematisch, dass die AKP-Regierung Teil dieser Verhandlungen ist. Es sollte in erster Linie um die Rechte der Flüchtlinge gehen, um ihre Gesundheit, Bildung, ihr Leben, nicht um Verhandlungen. Das Wichtigste für die Lösung der Flüchtlingsfrage ist ein dauerhafter Frieden in Syrien, in Nahost. Dafür müssen Organisationen wie der "Islamische Staat" bekämpft werden, damit sie diese Region verlassen. Wir wissen, dass es ein Zusammenspiel zwischen dem IS und der AKP gibt. Die EU übersieht das.

STANDARD: Diesen Vorwurf erheben die prokurdische Partei HDP und ihr Kovorsitzender Selahattin Demirtaş immer wieder. Haben Sie denn Belege für dieses "Zusammenspiel" der AKP-Regierung mit dem "Islamischen Staat"?

Tuncel: Ich sehe bei den Explosionen in Diyarbakir, Suruç und nun in Ankara schon sehr viele Belege für diese Zusammenarbeit. Es wird ja zunehmend berichtet, dass es bei den Attentätern um Personen geht, die schon einmal von der Polizei festgenommen und befragt wurden. Da gibt es Beziehungen zum Geheimdienst MIT, in einem Fall gingen die Eltern selbst zur Polizei und warnten sie über die Aktivitäten ihrer Kinder. Leute gehen im Auftrag des IS zwischen der Türkei und Syrien hin und her. Es gibt auch Videos, die im Fernsehen gezeigt wurden und die das enge Verhältnis zwischen türkischen Soldaten und IS-Kämpfern zeigen. Nach jedem Anschlag sagt die Regierung: Das war der IS. Aber dann tut sie sehr wenig. Wie haben mehrmals parlamentarische Fragen an die Regierung gestellt, aber keine zufriedenstellenden Antworten erhalten.

STANDARD: Wenn Sie das genauer beschreiben sollen, würden Sie sagen, die AKP-Regierung tolerierte den IS? Oder gehen Sie so weit zu sagen, es gibt eine Art Zusammenarbeit zwischen den beiden?

Tuncel: Dazu müssen wir die Politik der AKP gegenüber Rojava betrachten (Gebiet der Kurden im Nordwesten Syriens, Anm.). Es ist klar, dass sie dort keine Selbstverwaltung der Kurden dulden will. Deshalb muss man weit mehr von einer aktiven Kooperation zwischen der AKP und dem IS sprechen, als nur von einer Tolerierung (die Kurdenmilizen in Syrien kämpfen gegen den IS, Anm.). Es könnte sein, dass der IS auch in der Türkei benutzt wird, um die kurdische Opposition zu brechen, so wird schon in den Zeitungen geschrieben. In Ankara haben wir 102 unserer Genossen und Genossinnen verloren. Nach dem Anschlag wurde ja auch gleich wieder ein Verbot zur Berichterstattung verhängt. Es wurde versucht, die PKK für den Terrorakt verantwortlich zu machen. Wir bekommen aber immer wieder mit, dass Personen aus Adiyaman, die für die Anschläge verantwortlich gemacht wurden, von Leuten nach Syrien geschickt wurden, die mit der AKP in Verbindung stehen.

STANDARD: Die EU würde die Türkei gern zum sicheren Herkunftsstaat und zum sicheren Drittstaat erklären. Was halten Sie davon?

Tuncel: Ich bin mit diesen Diskussionen innerhalb der EU nicht so vertraut. Aber über das Konzept einer „Sicherheitszone“ wird in der Türkei schon länger gestritten. Dabei geht es darum, den Status von Rojava zu verhindern. Als der IS Rojava angegriffen hat, flüchteten hunderttausende in die Türkei. Die Türkei hat sich nicht wirklich um sie gekümmert, wir waren das. Was die Türkei eigentlich macht, ist ein Gefängnis für diese Menschen zu errichten. Es geht nicht um Sicherheit und Frieden. Wenn die EU sich tatsächlich für die Flüchtlinge interessiert, dann sollte sie überlegen, wie sie die Türkei dafür gewinnen kann, in der Region Frieden zu schaffen. Die Türkei benutzt die Flüchtlinge als Erpressungsmittel. Das wurde deutlich, als die Flüchtlinge nach Edirne an die Grenze zu Bulgarien marschierten. Der Regierungschef kam und redete mit ihnen. Das war eine Botschaft an die EU: Wir können sie ziehen lassen, wenn wir nicht bekommen, was wir wollen.

STANDARD: Im Wohlstandseuropa wird man wohl nicht auf den Frieden in Nahost warten wollen, um die Flüchtlingskrise zu beenden. Hätten Sie eine schnellere Lösung im Kopf?

Tuncel: Die Menschen fliehen vor dem Krieg, sie wollen sich eine neue Existenz aufbauen. Das ist nur verständlich. Dafür muss in der Türkei aber ein gesetzlicher Rahmen geschaffen werden, ebenso wie in der EU. Anstelle die Grenzen zu schließen, müssen die sozialen Rechte dieser Menschen gesetzlich gesichert werden. Aber die längerfristige Lösung ist eben der Frieden. Das ist nicht schnell zu erreichen, aber ich möchte nochmals darauf hinweisen, dass es die Türkei war, die dazu beigetragen hat, dass der Krieg in Syrien sich ausgeweitet hat. Jetzt verwendet die Türkei aber die Flüchtlingsfrage als Druckmittel.

STANDARD: Welchen Ausgang erwarten Sie bei den nochmaligen Parlamentswahlen am 1. November?

Tuncel: Die Bevölkerung hat ja eigentlich schon ihre Entscheidung am 7. Juni getroffen. Doch der Wille des Volkes wurde von der Regierung nicht anerkannt. Wir leben jetzt in einer Art zivilem Putsch, die Regierung trifft weiter wichtige Entscheidungen, obwohl sie nicht das Mandat dafür hat. Trotz dieser Kriegsstimmung im Land – ich kann nicht von einer Wahlkampfatmosphäre sprechen – glaube ich, dass die HDP noch ein paar Prozentpunkte dazugewinnen und möglicherweise als dritte und nicht als vierte Partei ins Parlament einziehen kann (also noch vor den Rechtsnationalisten der MHP, Anm). Es wird am Ende sicher eine Koalition geben und nicht eine Alleinregierung, wie es die AKP will.

STANDARD: Sie haben einmal einem Polizeichef bei einer Protestaktion in der Provinz Sirnak eine Ohrfeige gegeben. Was hat dieser Vorfall im Rückblick für ihre Identität als kurdische Politikerin bedeutet?

Tuncel: Ich habe nicht erwartet, dass man mir hier eine solche Frage stellt! Wissen Sie, ich will nicht, dass ich als die Frauenpolitikerin dastehe, die einen Polizisten geschlagen hat. Es war eine konkrete, eine besondere Situation damals, 2012, ein Jahr, in dem die AKP kriegerisch wurde. Die Polizei hatte sehr viel Tränengas verschossen, eine Person lag am Boden, es war nicht klar, ob sie noch lebte, wir konnten sie nicht zu Bewusstsein bringen. Und dann kam es zu dieser Auseinandersetzung mit dem Polizisten. Es gab danach Leute, die die Hand küssen wollten, mit der ich zugeschlagen habe, weil – so verstehe ich es – sie selbst staatlicher Gewalt und Terror ausgesetzt waren. Und andere, die diese Hand brechen wollten, weil sie es nicht hinnehmen konnten, dass man so etwas gegenüber dem Staat macht. Ich bin eine ruhige Person, aber es gibt offensichtlich Situationen, wo man die Beherrschung verliert. (Markus Bernath, 20.10.2015)